Zwischen Bambi und Knospenbeißer
- Christoph Boll

- 22. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Rehe werden mal als Bambi idealisiert, mal als Knospenbeißer verteufelt. Das Naturschauspiel der jährlichen Brunft zu dieser Zeit lenkt den Blick auf unsere kleinste Schalenwildart mit jagdlichem Zwiespalt
Passionierte Bockjäger fiebern jährlich zu dieser Zeit diesen vier Wochen der Blattzeit entgegen, besonders in den Niederwildrevieren. Gilt der Rehbock doch als Hirsch des kleinen Mannes. Auf der Suche nach paarungsbereiten Ricken wird mancher zuvor unbekannte Trughirsch sichtbar. Die jährliche Rehwildstrecke erreicht seit Jahren immer neue Rekordwerte und liegt inzwischen bei bundesweit mehr als 1,3 Millionen Stücken.
Rehe kommen als Kulturfolger flächendeckend in Deutschland vor und haben fast jede Art von Lebensraum für sich erschlossen. Sie leben sowohl im tiefen, menschenleeren Wald als auch in Stadtparks. Als nicht soziale Art sind Rehe die meiste Zeit des Jahres Einzelgänger. Im Winter suchen sie die Gruppe und finden sich zu mehr oder weniger großen „Sprüngen“ zusammen, meistens aus mehreren Familienverbänden bestehend. Sie finden sich dann zufällig und in wechselnder Zusammensetzung. Besonders im Frühjahr, wenn diese Sprünge sich auflösen und die Rehe ihre Sommereinstände beziehen, ist die Gefahr für Autofahrer groß. Die Stücke ziehen umher, auch auf der Suche nach frischer Grünäsung. Und: Junge Böcke werden von den älteren Geschlechtsgenossen vertrieben und suchen nach einer eigenen Nische. Dann kommt es gehäuft zu Zusammenstößen. Gleiches gilt für die von Mitte Juli bis Mitte August dauernde Brunft.
Die Hälfte der Wildunfälle ereignet sich mit Rehen
Alle 2,5 Minuten kommt es in Deutschland zu einem Unfall mit Wildtieren. In der Hälfte der Fälle sind Rehe betroffen. Wer in diesen Wochen mit dem Auto unterwegs ist, sollte daher vor allem in ländlichen Gegenden und entlang von Feldern und Wäldern aufmerksam fahren, die Geschwindigkeit anpassen und besonders vorausschauend unterwegs sein. Wenn plötzlich ein Reh auf der Straße steht, gilt: Abblenden, Geschwindigkeit reduzieren, hupen – und keinesfalls ein Ausweichmanöver versuchen. Ein solches endet oft im Gegenverkehr oder an einem Baum. Die sicherste Reaktion ist eine kontrollierte Vollbremsung bei gleichzeitigem Festhalten des Lenkrads.
Wenn hormongesteuerte Böcke das weibliche Wild suchen und im Liebesspiel vor sich hertreiben, oft ausdauernd in engen Kreisen, ist das ein besonderes Naturschauspiel. Auf Wiesen und in Getreidefeldern entstehen dadurch sichtbare Spuren, sogenannte „Hexenringe“, die auf den ersten Blick verraten, dass dort ein Rehbock bei der Brautschau erfolgreich war. Etwa neun Monate später setzt die Ricke ihren Nachwuchs, der aus bis zu drei Kitzen bestehen kann. Gut die Hälfte der Tragezeit besteht aus einer Keim- oder Eiruhe. Diese Verzögerung der embryonalen Entwicklung kommt in Europa auch bei Dachs, Marder, Hermelin, Seehund und Braunbär vor. Sie führt dazu, dass Mutter und Jungtier nach der Geburt sofort von einem reichen Nahrungsangebot profitieren.
Jagdgegnern ist jedes mit der Kugel getötete Reh eines zu viel. Sie werfen Jägern sogar vor, die Rettung von Kitzen vor dem Mähtod erfolge doch nur, um die Tiere wenig später schießen zu können. Dass die Bewahrung des Jungwildes vor grausamen Verstümmelungen schon ein Gebot des Tierschutzes ist, blenden sie aus. Anderen können mit Hinweis auf die Notwendigkeit des Waldumbaus und deshalb erforderlicher Verbissminimierung gar nicht genug Rehe erlegt werden. Sie sehen in der Büchse nicht nur ein probates Mittel des Waldumbaus, sondern oft das einzig wirksame.
Stetig wachsender Jagddruck
Seit etlichen Jahren werden Rehe deshalb zunehmend scharf bejagt. Denn die zuwachsenden Kalamitätsflächen bieten einen nahezu optimalen Lebensraum. Die sich entwickelnde Naturverjüngung bietet dem Wild massenhaft Äsung und außerdem den Vorteil, dass es zunehmend schwerer zu bejagen, weil kaum noch sichtbar ist. Die Tiere finden in einem kleinen Radius oft alles, was sie brauchen und müssen weniger zwischen Äsungsflächen und Einständen hin und her pendeln. Die neu entstehenden, riesigen Dickungen bieten dem Rehwild also beste Bedingungen, um sich weiter zu vermehren. Deshalb wird sich der Aufwärtstrend bei den Jagdstrecken wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren fortsetzen.
Und das trotz eines immer weiter zunehmenden Jagddrucks. Er basiert auch auf einer immer kürzeren Schonzeit für Rehe, deren Ende mit Blick auf die kontinuierlich früher einsetzende Vegetation Stück für Stück vordatiert worden ist. War noch vor wenigen Jahrzehnten am 16. Mai Auftakt der Jagd auf Böcke und einjährige weibliche Stücke, sogenannte Schmalrehe, so geht es vielerorts nun bereits am 1. April los. Mal mit Ausnahmegenehmigung, mal weil die Jagdzeiten landesgesetzlich geändert wurden. Nur wenige Traditionalisten halten noch daran fest, nur auf durchgefärbte rote Stücke und Böcke, die das Gehörn blank gefegt haben, zu jagen.
Der frühe Beginn der Rehwildjagd wäre kein Problem, würde auch das Ende vorverlegt. Wildbiologisch sinnvoll wäre Silvester „Hahn in Ruh“, also das Ende der Jagd und damit der Beunruhigung des Wildes. Denn dann schaltet unsere kleinste Schalenwildart ihre Stoffwechsel auf Wintermodus. Jede Beunruhigung durch Menschen und Raubwild wie den Wolf zehrt fortan an den Kraftreserven, die über Monate nicht mehr aufgefüllt werden können.
Warnung vor überzogenem Jagddruck auf Rehe
Doch besonders die Forstpartie möchte auch auf den Drückjagden im Januar noch Dampf machen auf Rehe. Nicht zuletzt auch auf Böcke. Vor einigen Jahren noch mussten sie durch die sogenannte Schonzeit ab 16. Oktober nicht mehr um ihr Leben fürchten. Weil aber die männlichen Stücke im Winter ihr Gehörn abgeworfen haben und deshalb viel schwerer von Ricken zu unterscheiden sind, erhielten auch sie längere Schusszeiten, die meistens sogar bis Ende Januar gehen. Mit der Gesetzesänderung sank bei etlichen auch die Hemmschwelle, auf Stücke zu schießen, die sie zuvor nicht eindeutig angesprochen, also identifiziert hatten. Da verkommt der alte Jäger-Leitspruch „Was du nicht kennst, das schieß' nicht tot“ im wahrsten Sinne des Wortes zu Schall und Rauch, also Büchsenknall und Pulverdampf.
Der Landesjagdverband Baden-Württemberg hat deshalb nun während seines Landesjägertages vor überzogenem Jagddruck auf Rehwild gewarnt und sich gegen Forderungen nach drastisch höheren Abschüssen ausgesprochen. Seiner Meinung nach zählen nicht Zahlen und sie allein seien kein Maßstab. Vielmehr brauche es Verantwortung und abgestimmte Konzepte mit Blick auf Altersstruktur und Geschlechterverhältnis.







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