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Wildnis nach menschlichem Willen

  • Autorenbild: Christoph Boll
    Christoph Boll
  • vor 3 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Ist von Wildnis die Rede, denken die meisten Menschen an Kanada, Sibirien, das Amazonasgebiet oder die Antarktis. Sie haben Bilder unberührter Natur vor dem Auge. Auch in Deutschland gibt es Wildnis. Sie ist nur anders definiert


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Foto: Rudolpho Duba / pixelio.de
Foto: Rudolpho Duba / pixelio.de

Die Vorstellung von Wildnis entspringt menschlichem Denken. Sie kann nur als Gegensatz von gestalteten Kulturlandschaften wahrgenommen werden. Und weil es bis zu wirklicher Wildnis oft ein weiter Weg ist, gibt es in Nordrhein-Westfalen sogenannte Wildnisentwicklungsgebiete. Die bereits entsprechend ausgewiesenen Areale umfassen 7.800 Hektar. Die Landesregierung will diese bis zum kommenden Jahr um weitere 5.000 Hektar erweitern, davon 500 Hektar im Hochsauerlandkreis und 300 Hektar im Reichwald Kleve. Dabei handelt es weitgehend um landeseigenen Wald, der bereits heute zum großen Teil als Naturschutzgebiet und als europäisches Fauna-Flora-Habitat-Gebiet ausgewiesen ist.


Insgesamt sollen künftig gut 15 Prozent des Landeswaldes und zwei Prozent der Gesamtwaldfläche von NRW der natürlichen Waldentwicklung überlassen werden; also aus der forstlichen Bewirtschaftung genommen werden. Die schwarz-grüne Landesregierung in Düsseldorf versteht dies als Beitrag zur Stärkung der Artenvielfalt und zur Bereicherung des Naturerlebens. Der grüne Umweltminister Oliver Krischer spricht von Wildniswäldern als „unverzichtbare Rückzugsräume für bedrohte Arten“. Landwirtschaftsministerin Silke Gorißen (CDU) assistiert mit dem Hinweis, die Flächen „ermöglichen zugleich der Bevölkerung, natürliche Waldprozesse unmittelbar zu erleben“.


Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt


NRW entspricht damit der aktuellen „Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt“ (NBS) der Bundesregierung, die mehrere Ziele zur Wildnis verfolgt. So soll sich die Natur auf mindestens zwei Prozent der Landfläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln. Die Wildnisgebiete sollen zudem in den länderübergreifenden Biotopverbund integriert werden. Außerdem sollen sich fünf Prozent der Waldfläche natürlich entwickeln können.


Wildnisgebiete im Sinne der NBS existieren heute nach aktuellen Einschätzungen auf etwa 0,6 Prozent der Landfläche. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Kernzonen von Nationalparken, Flächen des „Nationalen Naturerbes“ und Bereiche in einigen großen Naturschutzgebieten. Das Zwei-Prozent-Ziel soll nun bis 2030 verwirklicht werden. Bei der Identifizierung weiterer dazu geeigneter Gebiete geht es insbesondere um Wälder der öffentlichen Hand, Moorgebiete, Flussauen, Küstenabschnitte und Hochgebirgsregionen. In Frage kommen aber auch ehemalige militärische Liegenschaften und Bergbaufolgelandschaften.


Geld für NGOs aus Wildnisfonds


Der Begriff Wildnis hat sich aus den Erfahrungen und dem Erleben der Urlandschaften der Neuen Welt im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt. Das führte zu einer regelrechten „Wilderness“-Bewegung in Nordamerika und zur Ausweisung der ersten Nationalparke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Deutschland schlossen sich 2017 insgesamt 16 Naturschutzorganisationen zur Initiative „Wildnis in Deutschland“ zusammen. Seit 2022 gehören 21 Naturschutzorganisationen dem Verbund an. Zu deren größten Erfolgen zählt die Einrichtung des staatlichen Förderprogramms Wildnisfonds im Jahr 2019, den die Initiative von der Bundesregierung zum Schutz von Arten und Lebensräumen gefordert hatte. Dass einige dieser NGOs sich dann bei der Schaffung eigener Wildnisgebiete aus eben diesem Fonds bedienten, versteht sich fast von selbst. So erwarb die Nabu Stiftung Nationales Naturerbe 2018 etwa 1.300 Hektar im Naturschutzgebiet Anklamer Stadtbruch und die Deutsche Wildtier Stiftung schuf 2022 durch den Ankauf von Flächen das Wildnisgebiet Aschhorner Moor.


Die mit den menschlichen Wildnisvorstellungen verbundenen Ziele sind klar definiert. Da gibt es drei Vorgaben: Die Natur soll sich ohne direkte Eingriffe des Menschen ungesteuert entwickeln. Unbedingt notwendige Eingriffe, etwa wegen rechtlicher Vorgaben oder zum Schutz angrenzender Landschaft müssen auf ein Minimum reduziert werden. Das Gebiet muss mindestens 1.000 zusammenhängende Hektar groß – für Auwälder, Küsten, Moore und Seen sind auch 500 Hektar ausreichend – oder als Nationalpark bzw. größere Kernzone eines UNESCO-Biosphärenreservats ausgewiesen sein. Die Wildnisentwicklung muss dauerhaft rechtlich gesichert sein, etwa durch eine Ausweisung als Naturschutzgebiet oder eine Festschreibung im Grundbuch.


Forderung nach Jagdverzicht


Gebiete, die das noch nicht komplett erfüllen, werden als Wildnisentwicklungsgebiete klassifiziert. Darin findet oft auch noch eine Jagd statt, vielfach eingeschränkt. Dabei ist für die Initiative Wildnis in Deutschland ausgemacht, dass zu einer weitgehend ungesteuerten Entwicklung der Natur auch ein Verzicht auf Jagd auf mindestens 75 Prozent der Fläche gehört.


Einen halbwegs realistischen Blick auf die Wildnisbestrebungen hat das Bundesamt für Naturschutz. Es hat klar formuliert, in vielen Landschaftstypen werde „eine ungelenkte – d.h. von menschlichen Zielsetzungen und Zweckbestimmungen freie – Entwicklung heute kaum noch zugelassen. So sind die Meeresküsten weitgehend entweder eingedeicht oder mit sonstigen Küstenschutzmaßnahmen versehen. Auch die als noch weitgehend ökologisch intakt angesehenen Waldökosysteme unterliegen nur in Ausnahmefällen einer natürlichen Entwicklungsdynamik.“


Auch die Stiftung natur+mensch sieht das Wildnisziel skeptisch und hält es nur in Nischen als Ausnahme für realisierbar. Schon forstlich nicht bewirtschaftete Wälder sinken rapide im Jagdwert, weil eine jagdliche Infrastruktur wie Sicht- und Schussschneisen oder ein Wegenetz zum Erreichen von Ansitzeinrichtungen und Bergen von erlegtem Wild kaum mehr angelegt werden kann. Dagegen steht das Ziel eines ökologisch intakten Wirtschaftswaldes mit einem nachhaltig zu bewirtschaftendem Wildbestand.

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