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Auf ein Selfie in die Berge – oder: wie die Natur überstrapaziert wird

  • Ludwig Hintjens
  • 1. Sept.
  • 3 Min. Lesezeit

Ins Berner Oberland kommen seit dem Ende der Pandemie viele Pauschaltouristen aus Asien. Klassische Urlaubsregionen in den Alpen fürchten die Veränderungen und die Luftverschmutzung durch zusätzlichen Verkehr


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KI-Bild: Gemini
KI-Bild: Gemini

Vor allem im Sommer kommen sie, frühmorgens oder am Spätnachmittag. Sie kommen zu Fuß, machen Selfies vor der Wiese mitten im Dorf Adelboden im Berner Oberland mit dem hochalpinen Panorama. Ganz rechts hinter ihnen der Großlohner mit 3055 Meter Höhe. Viele sind augenscheinlich auf den Flitterwochen, die Bräute –ganz in Weiß gekleidet – gehen manchmal auf die Wiese und werfen vor der Kamera das herrlich duftende Heu in die Höhe. An manchen Tagen kommen sie in Scharen.


Die Erfahrung des „Overtourism“ machen nicht nur Venedig, Mallorca oder Amsterdam, sondern es trifft zunehmend beliebte und malerisch erscheinende Alpenregionen, wie wir es in diesem Beitrag für natur+mensch an dem Beispiel Adelboden in der Schweiz schildern. Wir greifen das Thema auf, weil dort Eingriffe in die Natur und natürliche Abläufe erfolgen, die Einheimische, insbesondere Bergbauern auf den Almen, in der geschilderten Intensität zunehmend erleben und – besser gesagt – auch hinnehmen müssen. An vielen Stellen regt sich Protest gegen unkontrollierte Touristenströme. Der Begriff „Overtourism“ stammt von der Welttourismusorganisation UNTWO, die damit Auswirkungen des Tourismus beschreibt, die das tägliche Leben der Einwohner und auch das Besuchserlebnis über ein normales Maß hinaus stören. Ein zu ein großer Anteil an Touristen kann so zu einem Störfaktor werden, der das Leben der Einheimischen belastet.


Zurück zu unserem erlebten Beispiel in der Schweiz: In das Gesicht der Touristen dort im Berner Oberland steht die Freude darüber geschrieben, dass sie die Gerüche, die klare Bergluft und den Blick auf den schneebedeckten Wildstrubel-Gletscher zum ersten Mal persönlich erleben. Sie kommen aus Asien, viele Inder und Pakistanis sind darunter, viele sind Touristen aus den Golfstaaten. Frauen sind zuweilen voll verschleiert. Vor allem im August, wenn sich in Adelboden in der dritten Kalenderwoche Dutzende ultraorthodoxe jüdische Familien treffen, zu denen vielfach zahlreiche Kinder gehören, sind das für die Einheimischen und die Urlauber aus Europa völlig neue Eindrücke.


Die Busparkplätze reichen schon nicht mehr aus


Die asiatischen Touristen, die vor dem legendären Norro-Hügel posieren, wo Generationen von Kindern ihre ersten Rodel- und Skierfahrungen gemacht haben, sind nur für eine Nacht im Dorf. Im Hotel, das Teil des Pauschalarrangements ist, haben sie den Abstecher zur Wiese als Tipp beim Einchecken mitbekommen. Jeden Abend in der Sommersaison quälen sich sechs bis acht Reisebusse aus dem 850 Meter hoch gelegenen Frutigen auf 1350 Meter Höhe nach Adelboden. Die Busparkplätze in dem 3000-Einwohner-Dorf reichen schon nicht mehr aus. Ein Hotelier mit indischen Wurzeln betreibt seit einigen Jahren ein Traditionshaus am Ort und hat dem Tourismus von Asiaten den Weg hierhin gebahnt.


Viele Menschen im Berner Oberland leben vom Tourismus. Auch in Adelboden freuen sich die Gastronomen über die neuen Gäste. Doch es gibt auch Stimmen, denen es zu viel wird. Sie schimpfen über die Verkehrsbelastung. Es sind nicht nur die Busse, es kommen auch Individualtouristen. Die Mietwagen in der Schweiz sind fast alle in Appenzell-Innerrhoden angemeldet. SUVs mit Schweizer „AI“-Kennzeichen sind verpönt im Land. Auch in Adelboden, wenn viele Fahrer mit Mietwagen die beschauliche Dorfstraße mit den zulässigen 50 Kilometern pro Stunde passieren. Oben in den Bergen und auf den Wanderwegen sind die vielen neuen Touristen nicht so häufig zu sehen. Die Pauschaltouristen bleiben ja meist nur eine Nacht.


In Slots zur Auffahrt mit der Bergbahn


Nach Adelboden schwappt eine Welle asiatischer Touristen herüber, die anderswo im Berner Oberland bereits Grenzen überschritten hat. Der Oeschinensee ist einer der schönsten Bergseen im Jungfrau-Aletsch-Gebiet. Der Ansturm ist so groß geworden, dass Touristen einen Slot buchen müssen für die Seilbahn. Zu Fuß eine knappe Stunde den Berg herauf von Kandersteg, das ist auch eine Alternative. Hier gibt es noch keine Beschränkungen. Auch der Blausee, ebenfalls im Kandertal, ist sehr belastet mit Touristen im Sommer. In Lauterbrunnen, einem Ort mit 2300 Einwohnern im Kanton Bern, wurden 2023 insgesamt 881.000 „Logiernächte“ gezählt. Das sind statistisch 383 touristische Übernachtungen pro Einwohner. Damit ist der Ort deutlich höher belastet als Paris, das 13 Millionen Einwohner hat und auf 85 Millionen touristische Übernachtungen kam. Das sind statistisch 6,5 Touristen-Übernachtungen pro Einwohner.


Zuweilen sind die sozialen Medien der Auslöser für hohe Besucherzahlen. So etwa in Iseltwald. Dort gibt es einen Steg an einem Bergsee, auf dem eine romantische Szene des koreanischen Netflix-Dramas „Crash Landing on You“ gedreht wurde. Fans posteten einen Besuch vor Ort bei Tiktok. Seitdem wollen so viele Paare aus Südostasien ein Selfie von dem Steg, dass die Gemeinde den Zugang begrenzen musste. Der Besuch der öffentlichen Toilette kostet jetzt auch einige Fränkli.


Wasserfälle sind auch ein beliebtes Fotomotiv bei Touristen. Unweit von Adelboden stürzen die Wassermassen spektakulär von den Engstligen, einer Alb am Fuß des Gletschers, ins Tal. In Adelboden fürchten die Menschen schon, dass die Engstligen-Wasserfälle bei den Touristen hoch in den Kurs kommen.

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