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Rotwild gibt’s nicht zum Nulltarif

Autorenbild: Christoph BollChristoph Boll

Deutlich mehr als 200.000 Stück Rotwild leben in Deutschland. Doch unserer größten Hirschart droht ein schleichendes Aus. Grund ist die genetische Verarmung


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Rotwild
Foto: Uwe Kunze / pixelio.de

Viele Rotwild-Vorkommen in Deutschland sind isoliert und zu klein, um langfristig lebensfähig zu sein. Mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Rotwild Rhön“ wird nun erstmals über Bundesländergrenzen hinweg versucht, neue Wege für die Bewahrung des Edelwildes zu finden. Die Partner auf beiden Seiten, die Hegegemeinschaften (HG) Zillbach-Pless in Thüringen und die Hegegemeinschaft Bayerische Rhön, sehen die Gefahr, dass der Genaustausch sonst zum Erliegen kommt und Rotwildvorkommen wegen der Folgen der Degeneration langfristig sogar erlöschen können. Die Rede ist von einem „historischen Schritt“ der neuen Kooperation, mit dem die Arbeit für das Rotwild auf eine neue Ebene gehoben werde, „raus aus ineffizienten Strukturen, hinein in die Öffentlichkeit und Politik“. Zudem sollen Projekte wie die Besenderung von Hirschen zur genauen Feststellung von Wanderrouten gemeinsam angegangen werden.


Seinen Ursprung hat das Elend in den 1950er Jahren. Damals wurden Rotwildbezirke festgelegt, also Räume, in denen dem Edelwild ein Lebensrecht zugestanden wird. Noch heute ist dies Praxis in den meisten Bundesländern, während dem Zuwanderer Wolf zugestanden wird, sesshaft zu werden, wo immer es ihm gefällt. Außerhalb dieser Bezirke droht dem Rotwild fast immer der Totalabschuss. Das ist in erster Linie der Forstwirtschaft geschuldet, deren Gewinnmaximierung das Rotwild im Wege steht. Es verbeißt junge Bäume, schält im Extremfall sogar die Rinde, ist also nicht zum Nulltarif zu haben.


Lebensraum stark geschrumpft


So imposant das mächtige Geweih der Hirsche und ihr Röhren in der frühherbstlichen Paarungszeit (Brunft) sind, so stiefmütterlich behandeln wir diese Wildart. Ihr Lebensraum ist nicht nur gesetzlich auf ein Viertel der bundesdeutschen Fläche zusammengeschrumpft. Straßen, eingezäunte Autobahnen, Kanäle mit steilen Spundwänden zerschneiden unsere massiv verdichtete Landschaft. Für das hoch sozial in Rudeln lebende Rotwild sind das unüberbrückbare Hindernisse. Darunter leidet es wie keine andere Wildart. Es kann nicht mehr wandern.


Hinzu kommen Beunruhigungen durch Spaziergänger und Wanderer, Mountainbiker und Geocacher, Pilzesammler und andere Erholungssuchende. In seinem eh schon eng beschränkten Lebensraum ist für das Rotwild jeder Mensch eine mögliche Gefahr. Die Folge sind erhöhte Aufmerksamkeit und manchmal Flucht. Letztlich gibt es kaum noch Orte in Deutschland, an denen Rotwild seinen natürlichen Verhaltensweisen entsprechend leben kann. Der Mensch hat den König des Offenlandes immer weiter zurückgedrängt und zu einem gestressten Bewohner des Waldes gemacht.


Rotwild
Foto: Uwe Kunze / pixelio.de

Inzwischen warnen Wildbiologen, die Lage könne für das Rotwild in Deutschland existenzgefährdend werden. Denn die ständig voranschreitende bauliche und infrastrukturelle Zerschneidung der Landschaft führt in Kombination mit den gesetzlich definierten „rotwildfreien Gebieten“ zu einer Verinselung mit letztlich stark reduzierter genetischer Variation der jeweiligen Population. Die Gene beeinflussen die Fähigkeit, auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren. Je weniger Genvarianten, desto schlechter kann die Population sich anpassen. Damit steigt gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, auf einen Fortpflanzungspartner zu treffen, der enger mit einem selber verwandt ist, als es per Zufall der Fall wäre. Damit beginnt Inzucht. Sie führt zu verminderter Fitness, vermehrten Krankheiten und einer reduzierten Fortpflanzungsfähigkeit. Es geht also nicht nur um die Überlebensfähigkeit eines Einzelindividuums, sondern um die der Gesamtpopulation. Oft mündet das im sogenannten Aussterbestrudel.


Schon vor rund 40 Jahren haben Ökologen die 50/500-Regel aufgestellt. Sie benennt die Mindestzahl an Mitgliedern einer lebensfähigen Population und andererseits die (höhere) Anzahl von Exemplaren, die nötig ist, um eine genetische Verarmung zu verhindern, wobei es für Säugetiere noch höhere Werte braucht. Weil kleine isolierte Populationen besonders bedroht sind, ist ein Sichtbarwerden von genetischer Verarmung bei ihnen am wahrscheinlichsten, etwa in Form von verkürzten Unterkiefern bei Kälbern. Solche sogenannten Inzuchtdepressionen wurden bereits quer durch Deutschland in verschiedenen Rotwildpopulationen nachgewiesen.


Inzucht als schleichender Prozess


Da das Fortschreiten der Inzucht ein schleichender Prozess ist, ist das Ausbleiben solcher Erscheinungen kein Beleg für das Wohlergehen. Denn einzelne Defektgene bleiben meist unentdeckt. Katharina Westekemper und Prof. Dr. Niko Balkenhol haben vor zwei Jahren eine Studie vorgelegt, der zufolge nur zwei der 34 in Deutschland untersuchten Rotwildvorkommen die erforderliche Zahl von Tieren erreichen, die sie langfristig vor Inzucht schützt. Das zeigt, dass es um die vom Gesetzgeber in Paragraph 1 des Bundesjagdgesetzes geforderte Erhaltung eines gesunden Wildbestandes nicht gut bestellt ist.


Die Deutsche Wildtier Stiftung hat deshalb vor fast fünf Jahren die Online-Petition „Freiheit für den Rothirsch“ gestartet und fordert die Auflösung der Rotwildbezirke, „damit die Art sich ihren Lebensraum selbst suchen kann“. Bis es vielleicht einmal dazu kommt, sind neue, großräumige jagdliche Konzepte, kombiniert mit einer vernetzenden Landschaftsplanung inklusive intakter Wanderkorridore, nötig. An diesem Punkt setzt die „Arbeitsgemeinschaft Rotwild Rhön“ an, indem sie Partner aus Ökologie, Naturschutz und Tourismus sowie Landnutzer und Jägerschaft beiderseits der Landesgrenze zusammenführt. Denn Harm Humburg, Vorsitzender der Hegegemeinschaften Bayerische Rhön, ist laut Verbandsblatt Thüringer Jäger überzeugt: „Geld ist da, wir müssen die Dinge nur politisch anschieben.“

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