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Rothirsch: Weiter Weg auf Freiersfüßen

Autorenbild: Christoph BollChristoph Boll

Das Rotwild nutzt uralte Fernwechsel. Jetzt konnte zum ersten Mal eine solche Wanderung im Norden Deutschlands genau dokumentiert werden. In Fachkreisen gilt die Aufzeichnung der Wegstrecken als Sensation


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Symbolbild: Silvio Schulze / pixelio.de

Der Bargfelder, wie er in der Region genannt wird, ist ein 18-Ender vom zehnten Kopf, will sagen: Er ist für einen Rothirsch im besten Mannesalter. Strotzend vor Kraft und hormongetrieben hat er eine weite Reise absolviert. Rund 70 Kilometer legte er zurück, um in der Segeberger Heide an der Brunft teilzunehmen und dann wieder heimzukehren in das Naturschutzgebiet Duvenstedter Brook am nördlichen Hamburger Stadtrand. Die Tour zum Transport seiner Gene von der einen Teilpopulation in die nächste hat den Hirsch durch einen gefährlichen und engen Wanderkorridor geführt. Allein auf dem 32 Kilometer langen Hinweg überquerte er nach Angaben des Landesjagdverbandes Schleswig-Holstein Anfang September in zwei Nächten 14 oft stark befahrene Straßen und schlich sich durch teilweise dicht besiedelte Gebiete. Dass Rotwild uralte Fernwechsel nutzt als Trassen zu Äsung, Sexualpartnern und neuen Lebensräumen und mit seiner Mobilität zur Paarungszeit die genetische Vielfalt und die langfristige Existenz seiner Art sichert, ist bekannt. Erstmals konnte nun eine solche Wanderung im Norden Deutschlands genau dokumentiert werden. Die Forscher sprechen von einer „Sensation“.


Möglich geworden ist dies durch die Besenderung des Bargfelders, der abgesehen von seinem imposanten Geweih auch an einer kahlen Stelle im Fell auf der rechten Schulter sicher identifizierbar ist und schon in den Vorjahren zur herbstlichen Brunft in der Segeberger Heide beobachtet wurde. Einfach war das gemeinsame Projekt von Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein, Landesjagdverband Schleswig-Holstein sowie den Schleswig-Holsteinischen Landesforsten nicht. Die Beteiligten wussten, „dass es fast unmöglich ist, einen ganz bestimmten Hirsch zu narkotisieren und zu besendern“, berichtet der Wildbiologe Frank Zabel, der Initiator des Projektes vom Landesjagdverband Schleswig-Holstein. Im Juli lagen sie nach guter Vorbereitung durch örtliche Unterstützer mehrere Abende auf der Lauer, bevor es gelang, den Hirsch mit einem Narkosepfeil zu betäuben und dann den GPS-Sender anzulegen.


Positionsermittlung im Stundentakt


Danach hieß es abzuwarten, bis der Bargfelder sich am 31. August auf den Weg machte. Gut dreieinhalb Wochen hat er insgesamt in der Segeberger Heide verbracht, bis er am 27. September innerhalb von nur zwölf Stunden zurückgekehrt ist. Bestens ließ sich das alles und auch jede weitere Bewegung des Hirsches verfolgen. Denn seit der Besenderung wird jede Stunde die Position des Tieres ermittelt. Zwar sind die Wanderachsen der Rothirsche zwischen den beiden Gebieten seit vielen Jahren bekannt und waren Gegenstand mehrerer Forschungsarbeiten. Aber mithilfe der Telemetrie ist es jetzt erstmals gelungen, die bisherigen Modell-Annahmen mit Bewegungsdaten zu belegen. Dabei zeigte sich, dass der Bargfelder einen Korridor nutzt, der bis zu zwei Kilometer, aber an der schmalsten Stelle nur 200 Meter breit ist. „Es wäre schön, wenn der Sender ein weiteres Jahr durchhält“, hofft Marcus Meißner, Rothirsch-Experte der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein, „danach können wir das Halsband auf Knopfdruck wieder ablösen.“ 


Grundsätzlich wird bei großräumigen Bewegungen von Wildtieren unterschieden zwischen Wanderung und Abwanderung, also endgültigem Verlassen des mütterlichen Streifgebiets. Letzteres tun junge Hirsche üblicherweise im Alter von 2,5 Jahren. Echte Wanderungen hingegen gehen immer in zwei Richtungen, Hin- und Rückweg. Die getrennten und nur jahreszeitlich genutzten Teile des Streifgebietes können beim weiblichen Wild zum Beispiel die Setzeinstände sein, wo der Nachwuchs zur Welt gebracht wird, und besonders ergiebige Äsungsflächen. Bei den Hirschen wird meistens zwischen den Feisteinständen, in denen sie sich die körperlichen Reserven für die anstrengende Paarungszeit anfressen, den Brunftplätzen und den Wintereinständen unterschieden.


Bis zu 400 Kilometer zwischen Winter- und Sommereinstand


Ein reifer Hirsch kann solche Wechsel im Laufe seines Lebens viele Male entlang ziehen. Datenauswertungen belegen, wie schnell und gezielt solche Wanderungen erfolgen. Die vom Bargfelder zurückgelegte Strecke ist dabei keineswegs rekordverdächtig. Wildbiologen der Universität Wyoming etwa wiesen für ein besendertes Maultierhirschtier, das sie „255“ nannten, das jährliche Überwinden einer Distanz von rund 400 Kilometern zwischen Winter- und Sommereinstand nach.


Dr. Konstantin Börner schreibt auf der Homepage der Zeitschrift Pirsch zu den Brunftwanderungen des Rotwildes, die es in geringerem Umfang auch von weilblichen Tieren gibt: „In verschiedenen Untersuchungsgebieten Deutschlands stellte man Brunftwanderungen zwischen fünf bis 20 km fest (Tottewitz & Neumann 2010). In Skandinavien wurde in einer Studie mit 96 Hirschen mit durchschnittlich 14 km eine vergleichbare Distanz festgestellt. Es ist dabei jedoch keine Seltenheit, wenn einzelne Individuen deutlich größere Entfernungen zurücklegen. Neumann et al. (2007) berichten von einem Hirsch, der zwischen zwei relativ kleinen Gebieten (ca. 500 ha) pendelte, die 20 km entfernt voneinander lagen. Janermo (2008) fand in Schweden einen Hirsch, der 47 km bis zu seinem Brunftplatz wanderte. Wagenknecht (1985) spricht sogar von sogenannten Wanderhirschen, die in der Brunft bis zu 100 km weit ziehen. In diesem Zusammenhang ist auch die größte bislang dokumentierte Brunftwanderung zu erwähnen, die von der West- bis zur Ostküste Schottlands verlief. Der Hirsch legte dabei eine Distanz von 120 km zurück (Clutten-Brock 1982).“


Welche Faktoren dieses Wanderverhalten auslösen, ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Sicher aber folgt das Rotwild nicht beliebigen Wegen. Wissenschaftlich belegt ist vielmehr, dass es sich an fest etablierten und tradierten Korridoren orientiert. Deshalb ist es wichtig, diese Routen freizuhalten von Barrieren, die unüberwindbar sind (siehe unsere Blog-Beiträge „Rotwild gibt´s nicht zum Nulltarif“ und „PV-Freiflächenanlagen – Fluch oder Segen“).



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