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  • AutorenbildChristoph Boll

„Ökologisches Denken: Schalenwild nicht als Schädling sehen“

Harmonisierung von Konflikten zwischen Wildtier und Mensch: Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern und jahrzehntelange österreichische Erfahrungen in der Wildökologischen Raumplanung


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Rotwild
Foto: Uwe Kunze / pixelio.de

Mit einem Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern sollen in Deutschland erste Erfahrungen mit der Wildökologischen Raumplanung (WÖRP) gesammelt werden. Von der langfristigen Studie in einem Wildschwerpunktgebiet im Landkreis Vorpommern-Greifswald werden Erkenntnisse über die Vereinbarkeit von waldbaulichen und wildökologischen Faktoren erwartet. Was bei uns neu ist und auf freiwilliger Kooperation basiert, ist andernorts inzwischen ein alter Hut und gesetzlich verankert. 1989 aber schaute nahezu die gesamt internationale Forst- und Jagdszene nach Österreich. Denn dort geschah fast Revolutionäres. Erstmals wurde WÖRP für ein gesamtes Bundesland konzipiert und im Jagdgesetz verankert.


Dessen wesentliche Teile, besonders jedoch Abschnitt 7 („Jagdwirtschaft“) bauen auf die WÖRP auf, die Professor Friedrich Reimoser von der Universität für Bodenkultur Wien in den 1980er-Jahren entwickelt hat. Wildbehandlungszonen, Wildräume, Wildregionen und Hegegemeinschaften, Mindest-, Höchst- und Mehrabschuss, Abschussaufträge und Freihaltungen, Wildruhezonen und jagdliche Sperrgebiete, Grünvorlage sowie behördliche Sanktionen bei Nichterfüllung von Mindestabschüssen stehen beispielhaft für den damals revolutionären Charakter dieses Gesetzes.


Stets geht es bei WÖRP darum, Ansprüche von Wildtieren und menschliche Interessen in Einklang zu bringen. Also artgerechte Lebensraumsicherung einerseits und Wildschadensverhütung andererseits. Und das gleichzeitig. Als wenn das nicht bereits Anspruch genug wäre, besteht inzwischen die Gefahr, das Planungs- und Steuerungsinstrument zur Lösung von Nutzungskonflikten zwischen Wildtier und Mensch in der Kulturlandschaft zur eierlegenden Wollmilchsau umzudefinieren, die auch den Umbau zu klimaresilienten Mischwäldern sichert.


Für jede Wildart möglich


Klar ist, dass der Mensch in Wildlebensräume eingreift. Er betreibt Land- und Forstwirtschaft, nutzt die Natur für Jagd, Tourismus und vielfältige Freizeitaktivitäten vom Waldspaziergang bis zum alpinen Bergsteigen. Wild ist dabei elementarer Bestandteil aller Ökosysteme, an die auch der Mensch Ansprüche stellt. Grundsätzlich kann eine WÖRP für jede Wildart gemacht werden. Im Zentrum stehen dabei die großräumig lebenden Arten wie Rotwild, Gams, Steinbock, Muffelwild und auch Schwarzwild. Praktisch angewandt wurde es im Ausland bislang für alle heimischen Schalenwildarten ebenso wie für Auer-, Birk-, Hasel- und Schneehuhn. Auch für den Biber besteht ein interessanter Anwendungsbereich.


Mit Blick auf den oft zitierten Wald-Wild-Konflikt bedeutet das Verfahren laut Reimoser „Wild mit als Standortfaktor zu sehen wie eben auch Sturm, Schnee, Trockenheit oder Borkenkäfer“. Land- und Forstwirtschaft aber hätten das „bis heute – von Ausnahmen abgesehen – nicht gelernt. Nach wie vor wird das Schalenwild oft nur als Schädling gesehen und der Abschuss und somit die Reduktion als einzige Schadenvermeidung betrachtet. Und genau das ist alles andere als ein ökologisches Denken.“ Diese Vorhaltung fordert indirekt einen waldbaulichen Ansatz, der weit über den Einsatz von Gewehr und Motorsäge hinausgeht.


WÖRP ist ein Ausgleichs- und Abstimmungsinstrument, das einen Ist-Zustand ermittelt und einen Soll-Zustand definiert. Agiert wird auf drei Ebenen. Da ist zunächst eine großflächige Rahmenplanung, die die räumliche Verbreitung einer Art etwa auf Landesebene im Blick hat. Auf diese Basis baut die regionale Detailplanung auf, aus der sich dann spezifische lokale Gegebenheiten ableiten, etwa in einzelnen Jagdrevieren. Dabei ist klar, dass sich großräumige Planung und großräumige Kontrolle des Fortschritts bei gleichzeitigem regionalem und lokalem Umsetzen in einem Patentjagdsystem wie dem der Schweiz leichter realisieren lassen als im deutschen Reviersystem. Schon deshalb ist das Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern ein spannender Versuch.


Es bedarf viel guten Willens


Wenn dieser ganzheitliche Ansatz mit seinem dynamischen ökologischen Denken und Handeln gelingen soll, bedarf es viel guten Willens. Zunächst müssen alle Beteiligten sich ihren Einfluss auf die Wildlebensräume eingestehen und bei ihrem Handeln berücksichtigen. WÖRP erzwingt einen Kommunikationsprozess, in dem jeder seine Emotionen und individuellen Maximalvorstellungen zurückstellen muss. Im Extremfall zwingt das Verfahren im Interesse des Ganzen zur vollständigen Aufgabe von Gewohnheiten. Das fällt schwer. Im schlimmsten Fall aber steht WÖRP nur als Alibi gegenüber der Öffentlichkeit und Jagdkritikern auf dem Papier und die Fronten bleiben verhärtet.

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