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AutorenbildChristoph Boll

Stromtrassen für Energiewende in der Kritik

Alle wollen die Energiewende. Aber wenn sie mit dem Netzausbau vor der eigenen Haustür konkrete Gestalt annimmt, hakt es oft. Betroffene melden sich zunehmend zu Wort. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes wird jetzt erwartet


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Foto: Rike / pixelio.de

Neue Stromleitungen sollen die regenerativ gewonnene Energie vom windigen Norden zu den Industriestandorten im Süden und Westen der Republik bringen. Die Einwände dagegen sind oft gut begründet. So wehren sich Georg Graf von Kerssenbrock und zwei weitere Landwirte aus dem ostwestfälischen Borgholzhausen gegen eine unterirdische Verlegung der Stromleitungen in ihren Feldern. Eigentlich wollte das Bundesverwaltungsgericht in der Klage gegen die Bezirksregierung Detmold und den Netzbetreiber Amprion noch vor Weihnachten ein Urteil sprechen. Nun wird wohl erst zu Beginn des neuen Jahres höchstrichterlich festgestellt werden, welche Beeinträchtigungen Grundeigentümer für die Energiewende in Kauf nehmen müssen. Die Präzedenzentscheidung kann Auswirkungen auf viele vergleichbare Projekte bundesweit haben.


Zunächst jedoch haben die Kläger Gelegenheit, auf jüngste Änderungen in der Planfeststellung zu reagieren. Darüber nämlich waren weder sie noch das Gericht informiert worden. Das bestärkt die Landwirte zwar in der Annahme, dass nach Belieben über ihre Grundstücke verfügt wird, ändert aber nichts an ihrer grundsätzlichen Argumentation. Sie lehnen die Stromtrasse nicht generell ab, wollen aber oberirdische Freileitungen. Durch die Erdverkabelung sehen sie die Landwirtschaft unzulässig hart betroffen und lehnen die massiven Eingriffe in den Boden ab. Für die Kläger geht es auch um ihre Eigentumsrechte.


Fußbodenheizung“ unter dem Ackerland


Nicht nur, dass der obere Boden ihrer Äcker breitflächig abgetragen wird und dadurch ein rund vier Kilometer langer und etwa 50 Meter breiter Graben entsteht. Auch nach Abschluss der Bauarbeiten erholen sich die Felder nicht, bemängeln die Landwirte und verweisen auf eine Bodenverdichtung und eine zerstörte Wasserführung. „Außerdem kriege ich eine ‚Fußbodenheizung‘ in die Äcker, die im Normalbetrieb rund 40 Grad abgeben wird und im Höchstbetrieb auf bis zu 80 Grad ansteigt“, verweist der betroffene Anführer der Kläger vor dem Leipziger Gericht, Georg von Kerssenbrock, auf eine mögliche Beeinträchtigung der Bodenqualität durch die Wärmeabstrahlung der unter der Erdoberfläche liegenden Kabel.


Umgekehrtes Problem im Tecklenburger Land


In der Vergangenheit wurden solche Stromleitungen vorrangig überirdisch an Strommasten befestigt. 2016 aber entschied die Bundesregierung, die Stromweiterleitung solle in erster Linie durch das Verfahren der sogenannten offenen Erdverkabelung in etwa zwei Meter Tiefe erfolgen. Die Kritiker des „Vorhabens Nr. 89 Westerkappeln – Gersteinwerk“ stehen vor dem umgekehrten Problem wie die Borgholzhausener Landwirte. Dort, im Tecklenburger Land, hat die Planung einer 380-Kilovolt-Höchstspannungsfreileitung massiven Protest ausgelöst. Gefordert wird eine Erdverkabelung zumindest dort, wo die geologischen Voraussetzungen über Teilstrecken bestehen.


Das 85 Kilometer lange „Vorhaben 89“ steht im Bundesbedarfsplangesetz, ohne mit dem Kennzeichen F als Erdkabel-Pilotprojekt ausgewiesen zu sein. Da es auch nach dem Energieleitungsausbaugesetz kein Pilotvorhaben ist, muss dort eine Freileitung gezogen werden. Um eine Änderung zu erreichen, die nur der Bundestag als Gesetzgeber vornehmen kann, haben sich in den vier besonders betroffenen Kommunen Tecklenburg, Lienen, Lengerich und Ladbergen Bürgerinitiativen gegründet. Daran beteiligten sich auch Bürger, die nie zuvor gegen staatliches Handeln protestiert haben, geschweige denn auf die Straße gegangen sind. Rund 20.000 Unterschriften haben die Kritiker gesammelt und als Petition nach Berlin geschickt. Sie befürchten eine „Verschandelung der Landschaft“ durch neue Strommasten und gesundheitliche Gefährdungen durch elektrische und magnetische Felder sowie eine mangelhafte Einhaltung der raumordnerischen Vorgaben mit Abständen von 200 und 400 Metern zu Wohngebäuden.


Eine Umstellung auf Erdkabel ist dort durchaus möglich, wie das Beispiel „Vorhaben 16 Gütersloh-Wehrendorf“ zeigt. Dort waren zunächst ebenfalls komplett 380-Kilovolt-Höchstspannungsfreileitung geplant. Aber 2015 erfolgte dann auf Druck der Politik und der Öffentlichkeit die Umbenennung in ein Pilotprojekt. Damals war das Projekt bereits weiter fortgeschritten als derzeit „Nr. 89“. Amprion befürwortet eine derartige Änderung nicht, obwohl die Mehrkosten letztlich der Endverbraucher, also der Stromkunde, zahlt.


Erdkabel wesentlich teurer als Freileitungen


Gegenwärtig beziffert das Unternehmen die Kosten für das Vorhaben mit einem „dreistelligen Millionenbetrag“. Erdkabel seien sechs bis acht Mal so teuer, heißt es. Bei dieser Schätzung orientiert Amprion sich an Zahlen der Bundesnetzagentur aus dem Netzentwicklungsplan (NEP). Danach ließen sich durch einen Verzicht auf Erdkabel und damit den Komplettumstieg auf Freileitungen bei der Energiewende in Deutschland mehr als 35 Milliarden Euro einsparen. Für den Gesamtausbau des Netzes rechnet die Behörde mit Investitionen von rund 320 Milliarden Euro.


Den Kreis Steinfurt ficht in seiner Stellungnahme zur Raumverträglichkeitsprüfung für die geplante 380-kV-Höchstspannungsleitung von Westerkappeln nach Gersteinwerk das Kostenargument nicht an. „Für den Erhalt der gesunden Wohn- und Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger sowie zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Natur im Tecklenburger Land ist zwingend zu prüfen, ob Teilbereiche der geplanten Leitung anstelle einer Höchstspannungsfreileitung als Erdkabel verlegt werden könnten. Die Kriterien für eine Nichtbefassung bzw. -prüfung einer Erdverkabelung sind im Vorverfahren weder transparent noch nachvollziehbar dargelegt worden“, heißt es darin. Die Verwaltung verweist zusätzlich darauf, dass sich der Kreistag der Petition aus den vier Gemeinden angeschlossen hat. Die Meinung sei: „Die höheren Kosten der Erdverkabelung auf möglichen Teilabschnitten dürfen bei der fachlichen Beurteilung nicht maßgeblich sein.“


Georg von Kerssenbrock wundert sich über das Ansinnen im Tecklenburger Land. Natürlich ist die Wechselstromleitung in seinem Acker etwas anderes als die im Tecklenburger Land geplante Gleichstromtrasse. Seinen Berufskollegen gibt er zu bedenken, dass es in beiden Fällen um ein Bauwerk im Boden mit unabsehbaren Folgen geht. Deshalb rät er den Betroffenen im Kreis Steinfurt: „Sie sollten sich einmal hier ansehen, wie das aussieht, wenn eine offene Erdverkabelung vorgenommen wird“.

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