top of page

Wer profitiert mehr: Stadt oder Land?

Hugo Müller-Vogg

Nach dem neuen Ampel-Wahlrecht wird in vielen Kreisen die Erststimme völlig wertlos. In der Unionsfraktion wird wohl der Anteil aus ländlichen Gebieten steigen


Beitrag anhören (MP3-Audio)

Foto: Timo Klostermeier / pixelio.de
Foto: Timo Klostermeier / pixelio.de

Die Ampel ist Geschichte. Aber das von ihr verabschiedete neue Wahlrecht wird groteske Folgen haben. Mancher Kandidat mit den meisten Erststimmen im Wahlkreis wird keinen Sitz im Bundestag bekommen, während Bewerber mit deutlich weniger Erststimmen unter der Reichstagskuppel Platz nehmen dürfen.


Bei der Bundestagswahl 2021 war das noch anders. Auch damals entschied die Zahl der Zweitstimmen, wie viele Sitze auf eine Partei entfallen. Aber die Sieger in den 299 Wahlkreisen hatten ihr Mandat sicher. Gewann eine Partei mehr Wahlkreise als ihr nach den Zweitstimmen zustanden, kam es zu sogenannten Überhangmandaten. Deshalb wurde durch sogenannte Ausgleichsmandate sichergestellt, dass letztlich jede Partei so viele Abgeordnete nach Berlin schicken konnte, wie ihrem Anteil an Zweitstimmen entsprach.


Folglich gab es nach der Wahl 2021 nicht 598 Mitglieder des Bundestags (MdB), wie es das Wahlgesetz eigentlich vorsieht, nämlich 299 direkt und 299 über Landeslisten gewählte. Aufgrund von 34 Überhang- und 109 Ausgleichsmandaten zählte das Hohe Haus 736 Mitglieder. Von den Überhangmandaten waren zwölf auf die CDU, elf auf die CSU, zehn auf die SPD und eines auf die AfD entfallen.


Überhang- und Ausgleichsmandate fallen weg


Das wird nach dem 23. Februar völlig anders sein. Die Ampel hat die Zahl der Abgeordneten auf 630 begrenzt. Überhang- und Ausgleichsmandate wird es nicht mehr geben. Die Sitzverteilung erfolgt nach dem Anteil der Zweitstimmen der Parteien, die mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten oder mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen, gehen einige Wahlkreissieger leer aus.


Ein Rechenbeispiel: Eine Partei gewinnt in einem Bundesland 15 Direktmandate. Nach ihrem Zweitstimmenanteil stehen ihr aber nur zehn Sitze zu. Dann gehen diejenigen fünf Wahlkreissieger dieser Partei leer aus, die ein geringeres prozentuales Erststimmenergebnis erzielt haben als die zehn anderen Parteifreunde. Wäre bereits 2021 nach dem Ampel-Wahlrecht gewählt worden, hätte es in Bayern so ausgesehen: Die CSU holte 45 der 46 bayerischen Wahlkreise direkt. Nach dem Zweitstimmenanteil hätten ihr aber nur 34 Sitze zugestanden. Elf Wahlkreissieger wären nicht nach Berlin gekommen, dafür aber einige ihrer unterlegenen Gegenkandidaten über die Landeslisten. „Fehlende Zweitstimmendeckung“ heißt der Fachbegriff dafür.


Ob die Wähler das verstehen?


Ob die Wähler verstehen werden, warum der Kandidat mit den meisten Stimmen bei der Mandatsverteilung leer ausgeht? Wohl kaum. So könnten sich die Bürger im Bundestagswahlkreis 181 (Frankfurter Westen) am 24. Februar sehr wundern. Dort gilt verschiedenen Umfragen zufolge der CDU-Bewerber Yannick Schwander als Favorit. Doch ist der Wahlkreis hart umkämpft, sodass Schwander ihn allenfalls mit einem relativ geringen Stimmenanteil gewinnen wird – ohne entsprechende Zweitstimmendeckung. Seine Gegenkandidaten von SPD und Grünen können dagegen auch im Fall einer Niederlage mit dem Einzug in den Bundestag rechnen. Sie sind über die Landeslisten abgesichert.


Bayern, Baden-Württemberg und Hessen besonders betroffen


Das neue Wahlrecht, das Wahlkreissiegern ein Mandat verwehrt, ist vor allem für die CSU in Bayern und für die CDU in Baden-Württemberg sowie Hessen nachteilig. Benachteiligt sind deren Kandidaten in den Großstädten. Dort kommt es häufig zu einem Dreikampf zwischen CDU, SPD und Grünen, mit dem Ergebnis, dass schon ein relativ niedriger Stimmenanteil für das Direktmandat ausreichte. Im ländlichen Raum holen die Unionskandidaten ihre Wahlkreise dagegen mit höheren Prozentsätzen. Am 23. Februar werden also eher großstädtische Wahlkreise leer ausgehen. Folglich wird der Anteil von Abgeordneten aus dem ländlichen Raum in der neuen CDU/CSU-Bundestagsfraktion höher sein als bisher.


Das neue Wahlrecht wirkt sich auf die Wahlkampfführung aus. Die Unions-Kandidaten werben mehr als je zuvor um die Erst- und die Zweitstimme. Das wird zu Lasten der FDP gehen. Schließlich haben bürgerliche Wähler bei früheren Bundestagswahlen gern das schwarz-gelbe „Stimmensplitting“ praktiziert: Erststimme CDU, Zweitstimme FDP. So erhielten die Direktkandidaten von CDU/CSU 2021 2,08 Millionen mehr Erststimmen als ihre Parteien Zweitstimmen. Die FDP wiederum brachte es auf 5,3 Millionen Zweitstimmen, aber nur auf 4,0 Millionen Erststimmen.


In diesem Zusammenhang wird gern von Leihstimmen gesprochen, was aber Unsinn ist. Man kann sich Geld leihen oder einen Frack, es gibt Leih-Autos und Leih-Omas. Nur eines kann man nicht: sich bei Wahlen eine Stimme leihen oder seine Stimme verleihen. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat im Konrad-Adenauer-Haus eben keinen Koffer mit Stimmen herumstehen, den er am Wahltag seinem FDP-Kollegen Marco Buschmann gibt, um ihn am Montag mit einem Dankesschreiben wieder zurückzubekommen.


Nein, so funktioniert das nicht. Funktioniert hat hingegen das Stimmensplitting im bürgerlichen Lager, jedenfalls bisher. Damit dürfte es unter dem Ampel-Wahlrecht vorbei sein. Es war vor allem die FDP, die mit dem neuen Wahlrecht die CSU bestrafen wollte, weil die Bayern sich halsstarrig jeder Reform zur Begrenzung der Zahl der Abgeordneten verweigert hatten. Doch wie es aussieht, könnte der Schuss nach hinten losgehen. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat in dieser Beziehung Klartext gesprochen: „Vier Prozent sind vier Prozent zu viel für die FDP und vier Prozent zu wenig für die Union“.


Wahl damit unter veränderten Bedingungen


Die Wahl am 23. Februar wird allerdings nicht ganz so ablaufen, wie die Ampel das ursprünglich gewollt hatte. Das verabschiedete Gesetz sah nämlich die Abschaffung der Grundmandatsklausel vor. Drei direkt gewonnene Wahlkreise sollten nicht mehr mit der Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde gleichgesetzt werden. Das war gegen die Linke gerichtet, aber ebenso gegen die CSU, die 2021 umgerechnet auf den Bund nur noch 5,2 Prozent erzielt hatte. Doch die Karlsruher Richter verwarfen diese Regelung zum Nachteil der Linken und der CSU als verfassungswidrig.


Die Deutschen haben also die Wahl unter veränderten Bedingungen. Ein vom Wähler gekürter Wahlkreissieger kann zum Verlierer werden. Manche Wahlkreise können sogar ganz leer ausgehen, falls dem Gewinner des Direktmandats die Zweitstimmendeckung fehlt und kein anderer Bewerber über die Landesliste abgesichert ist. So gesehen passt das Ampel-Wahlrecht zur Ampel-Politik: unlogisch und unverständlich.


Unser Gastautor

Dr. Hugo Müller-Vogg, ehemaliger F.A.Z.-Herausgeber, zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebs. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft. http://www.hugo-mueller-vogg.de

コメント


bottom of page