In Europa gibt es kein einheitliches System für Angaben auf Verpackungen von Lebensmitteln. 450 Millionen Verbraucher werden in die Irre geführt, rügt der Europäische Rechnungshof
Die Verpackungen von fast jedem Lebensmittel tragen inzwischen eine Vielzahl von Labeln, Etiketten, Gütesiegeln und Nährwertkennzeichnungen. Zudem preist die Industrie vielfach vermeintliche Eigenschaften der Produkte an: „Bio“, „glutenfrei“ oder „gesund“. Wobei keine Behörde kontrolliert, ob es sich um eine haltbare Aussage handelt oder um Schönfärberei. Dieses Chaos rügt der Europäische Rechnungshof in einem Sonderbericht. So gebe es EU-weit mehrere Hundert unterschiedliche Kennzeichnungssysteme, moniert Keit Pentus-Rosimannus, der die Prüfung verantwortet.
Die Rechtsvorschriften der EU seien mangelhaft: So sei es etwa durchaus möglich, Produkte mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt mit ernährungsbezogenen Angaben zu bewerben. Dann würden zuckerhaltige Riegel zum Beispiel als High-Protein-Produkt angepriesen. Völlig verwirrend sind die Systeme zur Kennzeichnung des Nährwerts. So werden dafür in der EU sechs unterschiedliche Systeme empfohlen. In Deutschland wird seit 2020 Nutri-Score verwendet wie auch in Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden. Der deutsche Verbraucher mag sich an die farblich unterlegte ABCDE-Skala gewöhnt haben, bei den direkten Nachbarn sucht er häufig schon vergebens: In Dänemark gilt das Keyhole-Symbol, in Polen, Tschechien und Österreich gibt es gar kein empfohlenes Kennzeichnungssystem. Einen Grenzpfosten weiter wird schon wieder etwas anderes benutzt: In Italien Nutrinform Battery und in Slowenien das Protective Food Symbol. Der Verbraucher aus dem benachbarten EU-Mitgliedstaat kann damit nichts anfangen. Die EU leistet sich auf dem wichtigen Gebiet der Verbraucherinformation bei Lebensmitteln eine peinliche Kleinstaaterei. Ganz so, als müsste der Binnenmarkt erst erfunden werden. Tatsächlich gibt es ihn seit über drei Jahrzehnten.
Noch schlimmer ist, dass die Kommission diese Missstände seit langem kennt. Sie hat sogar versprochen, für Abhilfe zu sorgen. So hat sie sich 2020 in einem Bericht dazu bekannt, es sei „angebracht“, für eine „harmonisierte und verbindliche Nährwertkennzeichnung“ auf der Vorderseite von Verpackungen zu sorgen. In der umfassenden Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ aus dem gleichen Jahr hat sie sogar angekündigt, bis 2022 einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Bald ist die Kommission drei Jahre überfällig, und ein Konzept ist immer noch nicht in Sicht.
Die italienischen Behörden gingen 2022 so weit, Geldbußen gegen Unternehmen zu verhängen, die das in Deutschland, Frankreich und Benelux gebräuchliche Nutri-Score-Label verwendet und in Italien ihre Produkte verkauft haben. Dieses Chaos ist dazu geeignet, die übelsten Vorurteile gegen EU-Bürokratie zu erhärten.
Festzuhalten bleibt, dass die Verbraucher ein berechtigtes Interesse daran haben, zu erfahren, welche Inhaltsstoffe Lebensmittel haben. Bislang sind die Kennzeichnungen nicht dazu geeignet, die Europäer bei Kaufentscheidungen zu beraten. Im Gegenteil, die Etiketten verwirren die Menschen mehr. Dabei ernähren sich zu viele Menschen, und hier gerade die Jüngeren, ungesund: zu fett, zu süß und zu salzig. Die Kommission ist gefordert, umgehend ein System der Lebensmittelkennzeichnung vorzulegen, das EU-weit benutzt wird, verständlich ist und dem Verbraucher wertvolle Informationen liefert. Hinzu kommt, dass es nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt. Verbraucher wollen nicht belehrt, sondern informiert werden.
Comments