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Özdemir macht den Kretschmann

Wolfgang Molitor

Der Bundeslandwirtschaftsminister versucht ganz im Sinn seines baden-württembergischen Ministerpräsidenten, die Grünen bei den Themen Sicherheit, Zuwanderung und Islamismus zu positionieren – und damit sich selbst


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Cem Özdemir
Foto: BMEL/Janine Schmitz/Photothek

Es klingt wie ein geübter Doppelpass. Und höchstwahrscheinlich ist es auch einer. Die beiden Zuspieler heißen Cem Özdemir und Winfried Kretschmann. Sie tragen ein dünnes grünes Trikot und versuchen, ihrer nach dem Europawahl-Debakel geschockten Partei ein neues, erfolgreicheres Spielsystem beizubringen. Dass dies Auswirkungen besonders auf Baden-Württemberg haben dürfte, ist dabei sonnenklar. Schließlich suchen die Grünen im Südwesten, wenn auch noch unauffällig, für den 2026 endgültig in die Polit-Rente gehenden Kretschmann nach einem populären und kompetenten Nachfolger, der das Zeug zum Ministerpräsidenten hat. Und der vor allem jenen Ländle-Kurs verkörpert, den man im Südwesten mehrheitsfähig ökokonservativ nennt.


Es geht also um mehr als nur um eine von den beiden eingeforderte „harte Analyse“ der Europa-Pleite. Was auf dem Spiel steht, ist der bundesweit einzige grüne Landesvater-Posten, jene Regierungsfähigkeit in Baden-Württemberg an sich, die 2026 ohne den Stimmenfischer Kretschmann an eine auch rechnerisch mögliche christlich-liberale Koalition verloren werden könnte.


Und so fragt Özdemir, der auf den letzten Drücker ins Berliner Ampel-Kabinett gerückte Landwirtschaftsminister, mit eigenem politischen Gewicht zwar, wenngleich mit Kretschmanns Zunge: „Schaffen es Demokraten zu zeigen, dass wir Probleme lösen können?“ Bei Kretschmann klingt das dann so: „Wollen die Grünen Bündnispartei oder Milieupartei sein?“ Özdemirs Doppelpass-Antwort lautet: „Entweder können wir es, dann werden wir wieder gestärkt, oder wir können es nicht, dann verlieren wir halt zu Recht.“


Özdemir und Kretschmann machen sich auf, ihre Grünen aus dem Öko-Themenloch zu neuen Ufern zu führen. Themen, die schwarz-grüne Übereinstimmungen geradezu suchen. Der Ruf nach „mehr Klarheit“ mag da noch im rhetorischen Allerlei untergehen, aber wo diese Klarheit erreicht werden muss, lässt aufhorchen: bei den Themen Sicherheit und Migration nämlich. Gerade dort würden die Grünen nicht als welche mit guten Antworten wahrgenommen – und hätten deshalb durchaus nachvollziehbar Vertrauen eingebüßt.


Und dann fällt das Wort, das die Grünen noch länger beschäftigen dürfte: Mitte. Anspruch der Grünen sei es, in die Mitte der Gesellschaft „auszugreifen“, sagt Özdemir. Das aber schaffe man nur, wenn man die Sorgen der „normalen Menschen“ in den Mittelpunkt rücke. In der Konsequenz bedeute das: Wer die breite Bevölkerung mit Themen wie dem Klimaschutz erreichen wolle, müsse wissen, „dass der Kompromiss dazugehört“. Weil man nicht erwarten könne, dass ich mit 14 Prozent 50 Prozent der Politik verändern könne. Das ist Kretschmann in Reinkultur.


Anderer Umgang mit Islamismus


Özdemir fordert von seiner Partei zudem mehr Klarheit beim Umgang mit Islamismus. Er wünsche sich, dass die Grünen da genauso „glasklar“ aufgestellt seien wie bei der Bekämpfung des Rechtsradikalismus. Seine Botschaft heißt: Die Grünen können auch Sicherheit. Und Zuwanderung steuern. Es wird spannend sein zu sehen, ob sich diese Rufe aus dem Südwesten auf der grünen Bundesebene Gehör und Entgegenkommen verschaffen können. Bisher war Baden-Württemberg da eher der belächelte Sondererfolgsfall ohne größere richtungsweisende Bedeutung.


Özdemir also folgt Kretschmann, aber auch ohne Chance auf das Ministerpräsidentenamt? Die Hinweise verdichten sich mit jedem neuen Sargnagel, den die Ampel in ihr Bündnis treibt. Und wer weiß? Vielleicht gelingt ihm bis zur nächsten Landtagswahl 2026 ja noch ein ganz besonderer Coup, sozusagen sein landespolitisches Gesellenstück. Es geht um Boris Palmer, jenen unangefochtenen Tübinger Oberbürgermeister von grüner Herkunft und zurzeit in Freie-Wähler-Kreistags-Gegenwart. Palmer nämlich, von seinen alten Parteifreunden nicht nur ob seiner hochprovokanten, nicht selten höchststrittigen Zuwanderungsthesen aus programmatischer Abscheu verbannt, liebäugelt ein gutes Jahr nach seinem Austritt mit einer Rückkehr zu den Grünen. Mit Hoffnung auf mehr? Typisch Palmer. Und Özdemir? Er kann sich das durchaus vorstellen. „Menschen für immer abschreiben, das sollte man ganz selten machen“, betont Özdemir. Palmer sei ein hervorragender Oberbürgermeister und hätte, wenn er seine Facebook-Schnellschüsse bleiben ließe, „natürlich seinen Platz“. Und Özdemir „wäre glücklich, wenn es so wäre“.


Sollte Özdemir Palmer zurückholen können, wäre es der eindeutig formulierte Anspruch auf die Kretschmann-Nachfolge. Eine klare Richtungsvorgabe für den Wahlkampf obendrein. Und eine Zerreißprobe vielleicht nur am Rande. Man darf gespannt sein, welche Doppelpässe noch zwischen Stuttgart und Berlin trainiert werden.

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