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  • AutorenbildChristoph Boll

Zukunft in ländlichen Regionen: Arztbesuch per Video

Bis 2035 werden deutschlandweit etwa 11.000 Hausarztstellen nicht besetzt sein. Rund 40 Prozent aller Landkreise droht Unterversorgung. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung


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Foto: ideogram.ai

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist also nicht insgesamt bedroht. Sehr wohl aber gibt es eine regional ungleiche Verteilung. Vor diesem Hintergrund wächst in ländlichen Regionen die Sorge, dass Krankenhaus-Reformen und Landarztmangel die medizinische Versorgung der Bevölkerung vor Ort zunehmend verschlechtern.


Die nun vorgelegte Machbarkeitsstudie, die das Softwareunternehmen BinDoc GmbH im Auftrag des Bosch Health Campus erstellt hat, legt nahe, dass Telemedizin mögliche Defizite weitgehend ausgleichen kann. Dabei geht es darum, Entfernungen zwischen Arzt und Patient virtuell zu überbrücken, um Diagnosen zu stellen, Behandlungen zu besprechen und medizinisches Fachwissen zu vermitteln. Auf diese Weise werden nicht nur Krankheiten schneller erkannt und behandelt. Sie verringert auch die Notwendigkeit langer Anreisen zum Mediziner, was Patienten mit Mobilitätseinschränkungen entgegenkommt.


Die Studie zeigt auf, dass sich nach der geplanten Krankenhausreform in Baden-Württemberg die Zahl der Menschen, die eine Fahrtzeit von einer halben Stunde oder mehr zu einem Krankenhaus mit Fachabteilungen der Allgemeinen Inneren Medizin oder Allgemeinen Chirurgie haben, von derzeit mehr als 300.000 auf knapp 700.000 bis mehr als 860.000 Patienten erhöhen wird. Das sind bis zu acht Prozent der Bevölkerung. Die längsten Fahrtzeiten müssen dabei Menschen in ländlichen Räumen wie dem Schwarzwald oder der Schwäbischen Alb in Kauf nehmen.


Eine telemedizinische Kompensation liegt vor, wenn beispielsweise Ärzte eines Krankenhauses bei komplexen Behandlungen digital von Spezialisten eines anderen Krankenhauses in sogenannten Telekonsilen beraten werden. Aus den modellhaft aufgezeigten Lösungsansätzen zur Vermeidung von Versorgungslücken folgert der Auftraggeber der Studie, es sei „an der Zeit, Telemedizin in Baden-Württemberg flächendeckender einzusetzen, die Einrichtungen telemedizinisch untereinander zu vernetzen und so das enorme Potenzial für die Gesundheitsversorgung auszuschöpfen. Dazu gehört auch, solche digitalen Ansätze den Menschen näherzubringen und greifbarer zu machen“.


Fernbehandlung seit 2018 erlaubt


Die Voraussetzungen für telemedizinische Angebote, bei denen digitale Hilfsmittel wie Apps, Telekonsilplattformen oder Videotechnologie genutzt werden, wurden 2018 mit der Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes in der Musterberufsordnung für Ärzte und Psychotherapeuten geschaffen. Im Oktober 2019 eröffnete dann in Spiegelberg bei Heilbronn offiziell deutschlandweit die erste „Ohne Arzt-Praxis“. Das Bundeslandwirtschaftsministerium begründete damals die Förderung über das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) mit dem modellhaften Charakter des Projektes, das geeignet sei, Neues auszuprobieren und als Vorreiter dienen könne.


An der grundsätzlichen Frage, wie digitale Lösungen die medizinische Versorgung unterstützen können, forscht das 2021 gegründete Fraunhofer-Zentrum für Digitale Diagnostik (ZDD) in Potsdam. Daneben gibt es inzwischen etliche weitere Pilotvorhaben. So hat das Bayerischen Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat den telemedizinischen Versorgungsansatz „Gesundheitsversorgung 4.0“ gefördert. Das Konzept soll sicherstellen, dass speziell die Bedürfnisse älterer Patienten, auch in stationären Pflegeeinrichtungen, berücksichtigt werden. Um die Umsetzung in die Praxis bemüht sich in den niedersächsischen Orten Drochtersen und Nordkehdingen das Projekt „Pflege und Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum stärken“ (PuG). Es wird im Rahmen der Richtlinie „Soziale Innovation“ über den Europäischen Sozialfonds gefördert. Das Vorhaben hat im März 2023 begonnen und läuft bis Februar 2026.


Drei Monate später endet das Projekt „Digitalisierung von Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen“, mit dem das Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei (Johann Heinrich von Thünen-Institut) Chancen und Herausforderungen auf dem Feld der ärztlichen Versorgung ermitteln will. Es verbindet dabei eine Bestandsaufnahme mit der Ermittlung der Ressourcen, die nötig sind, „um effektive und wirksame digitale Lösungen zu entwickeln, umzusetzen und zu verbreiten“. Beantwortet werden soll auch, welche Bedeutung überregionale Schlüsselinstitutionen wie Gesundheitsministerien, Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen in diesen Prozessen haben.


Telenotarzt als Sonderfall


Ein Sonderfall der Telemedizin ist der Telenotarzt. So wie medizinisches Fachpersonal den Patienten bei der Kommunikation mit dem entfernten Arzt unterstützt, etwa durch die richtige Bedienung der Technik, so bedarf der Telenotarzt speziell geschulter Sanitäter, die am Einsatzort oder im Rettungswagen (RTW) seine Anweisungen umsetzen. Die technische Unterstützung besteht unter anderem aus audiovisueller Kommunikation, Echtzeit-Vitaldaten-Übertragung und ggf. Live-Videoübertragung aus dem RTW. Dass es dabei auch zu Kooperationen kommen kann, haben die Münsterlandkreise Steinfurt, Warendorf, Coesfeld, Borken sowie der Kreis Recklinghausen und die Stadt Münster gezeigt. Sie haben gemeinsam ein Rettungsdienst-Netzwerk aufgebaut, das im Juni den Probebetrieb aufgenommen hat. Zum Start sind zwölf Einsatzfahrzeuge mit der Telenotarzt-Zentrale verbunden, bis Sommer 2025 sollen es alle rund 150 Rettungswagen sein.


Bei allem Nutzen der Telemedizin bleibt aber das persönliche Arzt-Patienten-Verhältnis unerlässlich. In ihm ist das Vertrauen oft über viele Jahre gewachsen, das dann die Basis sein kann, auf der der Hausarzt per digitaler Übertragung zu den Menschen gebracht wird. Um die Chancen der Digitalisierung patientengerecht zu nutzen, braucht es neben einer klaren politischen Strategie auch organisatorische Anpassungen und technische Voraussetzungen. Regulierungsbehörden müssen angemessene Rahmenbedingungen schaffen, um die rechtlichen, ethischen und datenschutztechnischen Aspekte der Telemedizin zu berücksichtigen. Gleichzeitig müssen Gesundheitseinrichtungen ihre Abläufe neu organisieren, um die Telemedizin in den Versorgungsprozess zu integrieren. Eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen lokalen Ärzten, medizinischen Fachkräften und Telemedizin-Spezialisten ist entscheidend, um eine umfassende und koordinierte Betreuung der Patienten sicherzustellen. Der Datenaustausch benötigt aber zuallererst eine stabile, leistungsfähige und vor allem eine flächendeckende Internet-Breitbandversorgung, die in vielen ländlichen Regionen immer noch fehlt.

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