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Der unbequeme Populist

  • Wolfgang Molitor
  • 11. Mai
  • 3 Min. Lesezeit

Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann lehnt kurz vor seinem 77. Geburtstag eine Rente mit 63 ab und fordert von den Bürgern mehr Arbeit, um in Krisenzeiten den Wohlstand zu bewahren


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Winfried Kretschmann (Foto: gruene-bw.de)
Winfried Kretschmann (Foto: gruene-bw.de)

O, was muss das schön sein. Wenn man nicht mehr gewählt werden will oder muss. Insofern warten auf Winfried Kretschmann noch ein paar entspannte Monate. Im kommenden März läuft die Amtszeit des baden-württembergischen Regierungschefs aus. Nach dann 15 Jahren, in denen dem Öko-Konservativen die Herzen im Land zugeflogen sind. Weit weg von grünem Übereifer, in deutlicher Distanz zu parteipolitischen Wendungen, mit großem Abstand zu windigen Gesten und wolkigen Worten. Im Südwesten wählten viele nicht grün, sondern Kretschmann.


Warum dieser Ego-Trip bisher so gut gelang, hat der alte Mann aus der Villa Reitzenstein unlängst im Fernseh-Talk mit Markus Lanz erneut unter Beweis gestellt. Wie soll man Kretschmanns weit von grünem Wunschdenken entfernte Vorstellungen nennen? Vielleicht so: unbequemen Populismus. Am 17. Mai wird der Über-den-Wolken-Grüne 77 und sagt von sich, er arbeite noch immer zwölf Stunden am Tag. Dass er die Regelung, mit 63 in Rente gehen zu können, da für leistungsfern hält, ist folgerichtig. Dass ihm zur Verdi-Forderung nach drei Tagen mehr Jahresurlaub nichts einfällt, auch.


Kaum einem anderen Bundesland droht mehr Wohlstandsverlust als Baden-Württemberg. Flächendeckend. Der rasante Absturz der Automobilproduktion macht auch Kretschmann Angst. Der Gewinneinbruch bei Mercedes um 43 Prozent bewege ihn mehr als das Ja der SPD zum Koalitionsvertrag, sagt er. Denn der ist längst nur ein Problem unter vielen. Pläne für einen Stellenabbau liegen nicht nur bei Porsche (um 4000), bei ZF in Friedrichshafen (um 14.000), bei Daimler (um 10.000) und Bosch (um 12.000) in den Schubladen. Es geht also um das Rückgrat der heimischen, im globalen Wettbewerb zurückfallenden Wirtschaft, nicht zuletzt, weil viele oft im ländlichen Raum angesiedelte kleine und mittlere Zuliefererfirmen, die selbst gar keine Autos bauen, von der Automobilindustrie abhängig sind. Kretschmann sagt es klar. „Das macht was mit meiner Region, wenn man merkt, es kriselt, und die gehen in die Knie.“ Wirtschaftliche Sorgen münden auch in Baden-Württemberg nicht selten in politische Irrungen.


Immer weit weg von Berlin


Für viele im Südwesten ist Wohlstand eine Selbstverständlichkeit. Wer will Kretschmann da widersprechen, wenn er einen Mentalitätsschub fordert, einen Leistungsruck, damit „die Leute aufwachen“. Wenn er vielen Bürgern vorhält, trotz sich verändernden Zeiten den Staat noch immer als Supermarkt zu betrachten, „der tolle Angebote machen kann, die man dann quasi zu Billigpreisen holen kann“. Dass auch die Ampel-Grünen keine wirklichen Vorschläge gemacht haben, wie die Sozialbeiträge nach unten korrigiert werden könnten oder in der Rente eine echte Reform möglich wäre, räumt Kretschmann offen ein. „In der Frage ist nichts gelaufen, das kann man nicht bestreiten.“ In Stuttgart war Kretschmann immer weit weg von Berlin.


So kann also einer reden, der alle großen Herausforderungen nicht mehr selbst schultern muss. Dem schon bald weder Gewerkschaften noch eine linke Parteibasis im Nacken sitzen. Der mit 77 glaubt, existenzielle Krisen wie früher mit mehr Arbeit zu entschärfen. Und dem es in den letzten 15 Jahren ziemlich leicht gefallen ist, sein Bundesland – zuletzt mit einem penetrant pflegeleichten schwarzen Junior – recht saturiert undramatisch zu regieren, weil es unterm Strich nie an ausreichend Geld gemangelt hatte.


Viele Bürger werden Kretschmanns Forderungen deshalb zustimmen – solange sie nicht selbst betroffen sein werden. Den Ruf des Ministerpräsidenten werden viele gerne hören. Auf ihn hören allerdings werden wohl nur wenige. Am wenigsten seine eigene Partei.

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