Das Zauberschloss der Einigungskraft und viele nicht gelöste Blockaden

Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit dem Blick aufs Land und zurück auf diese Woche

 

Liebe Leserinnen und Leser unseres Politblogs,

der Rückblick auf diese Woche beginnt für mich erst einmal mit Fakten. Die Zahl der Arbeitslosen ist im August um 79.000 gegenüber dem Vormonat gestiegen, obwohl alle Welt nach Arbeitskräften ruft. Die Arbeitszeit pro Erwerbstätigen ist nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gesunken. Für die deutschen Getreidefelder meldet der Bauernverband eine schlechte Erntebilanz, und der zuständige Minister antwortet mit der banalen Erkenntnis, dass die Landwirtschaft schon immer eine „Draußenwirtschaft“ gewesen sei. Der Einzelhandelsumsatz ist, wie das Statistische Bundesamt jetzt für Juni berichtet, im Juli gegenüber dem Vormonat um 0,8 Prozent gesunken. Im ersten Halbjahr ging er inflationsbereinigt um 4,3 % zurück, wobei mehr Geld ausgegeben und weniger gekauft wurde. Das ist schwer zu verstehen, aber richtig, weil zurzeit mehr in den Kassen und gravierend weniger in den Einkaufswagen ankommt. Das Bürgergeld wird im kommenden Jahr um knapp 60 Euro auf 502 Euro angehoben. Und den Sozialverbänden geht die von der Familienministerin gegenüber dem Finanzminister so etwas wie erpresste Neuregelung der Kindergrundsicherung nicht weit genug. 

 

Jost Springensguth
Jost Springensguth

Oppositionsführer Merz sieht bei dieser Entwicklung nicht nur die nackten Zahlen, sondern rechnet die sozialen Transferleistungen zusammen. Dazu weist er immer wieder auf das Lohnabstandsgebot hin, das schon seine Berechtigung hat und von Sozialpolitikern gern verschwiegen wird. Im ARD-Morgenmagazin stellte Merz die Frage, ob in den unteren oder mittleren Einkommensgruppen der/die eine oder andere überlegt, überhaupt arbeiten zu gehen, wenn eine Familie über staatliche Leistungen genauso viel bekommen kann wie über ein Lohnkonto. Dagegen setzt er die Forderung: „Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung für Bildung und Integration für Kinder.“ Natürlich ist die Abwägung zwischen fördern und fordern nicht nur hier eine Grundsatzfrage, sondern sie zieht sich durch die ganze Politik. Auf entsprechende öffentliche Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren der Ampelparteien müssen wir gerade jetzt wieder zurückblicken – allein wenn wir uns an verschiedene Äußerungen von Christian Lindner in seiner Rolle als Hüter der Finanzen aus den letzten Tagen erinnern. Es geht unter anderem um Begriffe wie Schuldenbremse als Verfassungsgrundsatz. Oder wie oft hat nicht nur er darauf hingewiesen, wie sehr eine leistungsfähige Sozialpolitik eine prosperierende Wirtschaft mit ihrer Steuerleistung voraussetzt.

 

Damit stauten sich bekannt strittige Komplexe vor der Kabinettsklausur als zentralem Termin zur Wiederentdeckung der Handlungsfähigkeit der Regierung Scholz auf. So wurde Meseberg zum Zauberschloss der Einigungskraft. Schon zu Merkels Zeiten ging es bei der immer wiederkehrenden Klausur des Bundeskabinetts darum, Koalitionsstreitigkeiten wegzuräumen, die in Berlin auf dem Tisch und damit konkret im Kanzleramt liegen. Nur ist das zu dritt schwieriger als zu zweit zu lösen. Inzwischen müssen dies auch die Merkel-Kritiker einsehen, die damals müde von der sogenannten Großen Koalition geworden sind. Sie haben auf den Zauber des Neuen gesetzt. Vom Glanz des Koalitionsvertrages, von der Innovation unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ ist nicht viel geblieben. Kompetenz und politisches Handwerk lassen offensichtlich bei unserem Führungspersonal derzeit zu wünschen übrig.  

 

Meseberg ging fast zauberhaft zu Ende

 

Nach all den Fingerhakeleien vor Meseberg ging der Kabinettstermin im Brandenburgischen fast zauberhaft zu Ende. Der Bundeskanzler hat seinen eigenen Blick auf das, was seine Regierung geleistet hat. Aus dem Koalitionsvertrag habe man vieles bereits umgesetzt und er ziehe eine positive Leistungsbilanz. Das führt zwangsläufig zu dem Schluss: Die Arbeit war gut, nur die Kommunikation untereinander und nach außen war schlecht. So einfach ist das nicht. Jedenfalls stellt etwa der Tagesspiegel fest: „Während die Bundesregierung sich – offenbar in töpfernder Stuhlkreisatmosphäre – für den Moment öffentlich wieder zusammengerauft hat, das Wachstumschancengesetz beschlossen und sich auf die Kindergrundsicherung geeinigt hat, sind die Blockaden an anderen Stellen noch lange nicht gelöst.“ Das kann man eigentlich nicht besser zusammenfassen. 

 

Mal sehen, ob sich das öffentliche Meinungsbild dann schlagartig wieder ändert. Wir werden weiter auf die Ergebnisse der regelmäßigen Umfragen der Fernsehanstalten schauen. Für die Ampel bleibt da jedenfalls noch viel Luft nach oben. Vor Meseberg hatte sie keine Mehrheit mehr. Und 58 Prozent der Deutschen waren nach dem letzten ZDF-Barometer der Meinung, die Scholz-Regierung mache ihre Sache einfach nur „schlecht“. Mal sehen, ob mit Seminar-Atmosphäre, Teambuilding und Geselligem am Rande und dem Geist von Meseberg die politische Welt eine andere wird. Ich glaube es nicht. Jedenfalls sind nach der Klausurtagung keine Ergebnisse zu sehen, die greifbar sind und das Potenzial haben, das bekannt schlechte Bild gravierend zu drehen. Es sind Programmankündigungen, die noch durch den Bundestag müssen, und von denen niemand weiß, was am Ende an Konkretem herauskommt. 

 

Kern des Problems bleibt aktuell die verheerende Wirtschaftslage mit dem Bild vom „kranken Mann“ in Europa oder gar in der Welt. Da ist jetzt eine Menge an schlechten Daten zusammengekommen. 

 

Das exemplarische Scheitern von Experten

 

Wie sehr Ankündigungen und Ergebnisse auseinanderklaffen, dokumentiert jetzt die sogenannte Borchert-Kommission. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hatte einst versichert, die Ziele des Expertengremiums um seinen Vorgänger aus Kohls Zeiten Schritt für Schritt erreichen zu wollen. Jochen Borchert verkörpert bis heute eine ganz andere Kompetenz, wenn es nicht nur um den breiten Fächer landwirtschaftlicher Produktion geht, sondern insbesondere auch um die Nutztierhaltung. Er ging immer mit der Zeit und ist auf der Höhe, wenn es um den breiten öffentlichen und vor allem politischen Diskurs rund um das Thema Tierwohl geht. In seiner Kommission hat er glaubwürdige Kompetenz zusammengeführt, die nun ihre Arbeit einstellt. Wir haben es in unserem Blog aktuell so beschrieben: Aus dem vorgeschlagenen Weg zu mehr Tierwohl in den Ställen und Betrieben wurde kaum mehr als ein verwässerter, im Politik- und Ministeriumsbetrieb entstandener Umbauplan, „der in letzter Konsequenz keine wirtschaftlich tragfähige Lösung für die Tierhalter darstellt“. Es gibt nach wie vor keine langfristigen und rechtssicheren Verträge für die Tierwohlprämie und keine ausreichende Finanzausstattung für die Umstellung einer jährlich steigenden Anzahl von ökologischen und konventionellen Betrieben. In beiden Punkten sieht die Borchert-Kommission keinen Durchbruch. Im Entwurf des Bundeshaushalts 2024 fehlt das erhoffte Signal.

 

Bleiben wir kurz bei unserem Blog. Auf die Themen Tierschutzverständnis und Veränderungen in der Forstpraxis zulasten des Wildes haben wir schon mehrfach hingewiesen. Ich empfehle in unserem Politblog, wie weit etwa in Bayern schon das Thema „Wald vor Wild“ geht. Dort wird geschildert, dass dem Wald, der schon unter Dürre und Hitze leidet, durch immer brutalere Jagdmethoden auf Reh, Hirsch und Gams geholfen werden soll. Es geht um die Forstbetriebe, die die klimatischen Veränderungen und die Schadstoffbelastung zwar zu den Ursachen des Waldsterbens zählen, aber eine drastische Dezimierung der Schalenwildbestände als Maßnahme der Soforthilfe predigen. Da geht es mit Abschussregelungen für Schalenwild offensichtlich an die Grenzen des Tierschutzes.

 

Und dann gab es da noch eine Meldung von VW aus Wolfsburg, die praktisch einer Abstimmung mit den Gabeln gleichkommt: Es gibt dort wieder Brat- und Currywurst! Uns redet man ein, dass das Vegetarische und Vegane stark nachgefragt wird. Irgendwie kann das nicht stimmen. Ein anderes Beispiel haben wir unlängst in meiner Heimatstadt erlebt. Durch Druck alternativer Ernährungserzieher wurden beim traditionellen Hansemahl die ebenso traditionellen Schmalz-, Mett- und Käseschnittchen durch weitere Brote mit fleischlosem Aufstrich ergänzt. Man munkelt, dass auch hier das Verhalten der Menschen nicht anders war als in der Wolfsburger Kantine. 

 

So verbleibe ich mit meinen Wünschen zum kalendarischen Herbstanfang mit einer passenden Empfehlung, bei allen Bekenntnissen zur gesunden Ernährung: Es darf auch mal eine Currywurst sein! Oder ich gebe gerne einen Tipp unseres Landesjagdverbandes weiter. Am Freitag haben die NRW-Wildwochen begonnen. Auch anderswo kann ich nur empfehlen, sich beim Speiseplan daran zu erinnern, wie schmackhaft und gesund unser Wild ist! Wie sagt man so schön: Mehr Bio geht nicht.   

 

Ihr

Jost Springensguth

Redaktionsleitung / Koordination


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