Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit dem Blick aufs Land und zurück auf diese Woche
Liebe Leserinnen und Leser, die Kernaussage des ZDF-Politbarometers von gestern überrascht die Beobachter des Parlamentsbetriebes in Berlin schon. Nach allen ernsten und künstlichen Aufregungen rund um Scholz, Lindner oder Habeck – die Mehrheit in unserem Lande ist der Meinung: „Die Regierung hält - trotz Streit.“ Genau sind es 74 Prozent, die erwarten, dass die Ampel bis zum Ende der Legislaturperiode nicht auseinanderbricht. Gleichwohl wird nach Feststellung der Forschungsgruppe Wahlen die Arbeit des Kabinetts und damit der Gesamtheit der Ampel-Ministerinnen und Minister „sehr negativ“ bewertet.
Im Ranking des Spitzenpersonals schneidet Boris Pistorius am besten ab. Cem Özdemir wird in der Gruppe der zehn wichtigsten Politiker nicht genannt. Das liegt vielleicht nicht direkt an ihm selbst, sondern auch daran, dass die Themen seines Fachbereichs nach der Zeit der Haushaltsberatungen und Trecker-Protesten auf der Agenda des Berliner Tagesgeschäftes erst einmal wieder nach unten gerutscht sind. Die Betroffenen in der Agrar- und Forstwirtschaft haben trotzdem unverändert die steuerliche Behandlung, steigende Kosten, bürokratische Auswüchse und branchenbezogene Zukunftssorgen besonders in den Familienbetrieben auf ihrer Agenda.
Der ländliche Raum bleibt im Großen und Ganzen ein Thema am Rande
Besonders auffällig war in dieser Woche, wie Repräsentanten und auch einzelne Unternehmer der Industrie den Kanzler mit ihren Praxis-Erfahrungen nahezu zur Sprachlosigkeit brachten. Knappe Worte liegen Olaf Scholz ohnehin. Zur Eröffnung der Hannover Messe geriet er wieder ins Blickfeld politischer Beobachter und internationaler Industrieplayer. Als er auf dem Stand des Metallunternehmens Rittal aus Hessen vom Aussteller als Replik auf seine Antwort auf die Kritik des BDI-Präsidenten („Das Lied des Kaufmanns ist die Klage“) die Ergänzung „… das Lied der Industrie sind die Lösungen“ hörte, wandte sich der Kanzler nach Beobachtungen von Zeitzeugen mit der schlichten Bemerkung „Jaha“ lächelnd ab. Das war dann der Folgeauftritt zu dem Spitzengespräch mit den vier wichtigsten Verbänden der deutschen Wirtschaft Anfang April. Gewöhnlich ist der ländliche Raum nicht mit vertreten, wenn der Kanzler mit BDI, BDA, ZDH und DIHK spricht – allenfalls am Rande durch die organisierte Handwerkerschaft. Auch im Zwölf-Punkte-Plan des Finanzministers und FDP-Vorsitzenden spielen die Anliegen des ländlichen Raumes höchstens indirekt eine Rolle. Mal sehen, was daraus dann nach dem Bundesparteitag der Liberalen an diesem Wochenende in Berlin wird. Da wird Europa in den Blick genommen. Die Themenauflistung der FDP dazu enthält in ca. 45 Stichpunkten unter A-Z irgendwann auch Punkte wie Klima, Umwelt und Landwirtschaft und dann Bereiche, die auch in den ländlichen Raum strahlen. So z.B. Infrastruktur, Digitalisierung, Gesundheit, Soziales oder Mobilität.
Planbare EU-Entlastungen für die Bauern
Bleiben wir beim Stichwort Europa. Das Parlament in Straßburg hat in dieser Woche mit der letzten Sitzung vor der Wahl in allen Mitgliedsländern vom 6. bis zum 9. Juni sein Restprogramm erledigt. Am Mittwoch hat es den Weg frei gemacht für das erwartete Agrar-Entlastungspaket. Der Vorschlag stammte von der EU-Kommission. Wichtig ist: Bisher gewährte die EU Entlastungen, die wegen der Pandemie und den hohen Energie- und Rohstoffpreisen in Folge des russischen Angriffskriegs nur befristet waren. Diesmal haben die Bauern mehr Planungssicherheit. Die Erleichterungen sollen bis zum Ende der Förderperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gelten, also mindestens bis Ende 2027. Und das wurde beschlossen: Die insbesondere bei den deutschen Bauern als „Enteignung“ verstandene Vorschrift, vier Prozent der Fläche als Maßnahme des Artenschutzes brach liegen zu lassen, wird abgeschafft. Gegen eine Prämie können die Landwirtschaftsbetriebe auf freiwilliger Basis dennoch Ackerflächen stilllegen.
Auch bei anderen Vorschriften, die die Bauern einhalten müssen, um die Flächenprämie zu erhalten, hat die EU Erleichterungen beschlossen. Sie heißen im Fachjargon „GLÖZ“ und gelten als Standards für einen „guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand“. Es gibt neun „GLÖZ“-Standards. Der achte ist außer Kraft gesetzt worden. Vier weitere, bei denen es unter anderem um den Fruchtwechsel und die Bodenbedeckung zu sensiblen Zeiten geht, wurden entschärft. Zudem entlastet die EU die Bauern weiter bei der Bürokratie.
Das Entlastungsprogramm für die Landwirtschaft ist auch eine Reaktion der Kommission auf die Bauernproteste. Es wurde im beschleunigten Verfahren beschlossen, die Zustimmung der Mitgliedstaaten steht zwar noch aus, ist aber Formsache. Es soll noch vor der Europawahl Anfang Juni in Kraft treten. In der nächsten Woche berichtet unser Autor für EU-Themen, Ludwig Hintjens, für uns, wie das Paket bei Landwirten in der Ortenau aufgenommen wurde. Norbert Lins (CDU), Chef des Agrarausschusses im Europaparlament, hat drei Betriebe besucht und mit den Bauern gesprochen.
Die Jagd und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft
Wenn wir schon auf dem Lande unterwegs sind, schauen wir natürlich wie auch andere darauf, wie sich sonst Feld und Wald entwickeln. In unserem Blog wird der Forstwissenschaftler Thorben Hammer als unser Gastautor zum 1. Mai beschreiben, was sich aktuell im Wald tut und dort getan wird. Dazu gehört im Idealfall ein zwischen Forstleuten und Jägern abgestimmtes Waidwerken. Der Blick auf Fakten und gewachsene Zusammenhänge ist für mich bedeutsam, wenn es um die Jagd und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft geht. Nach der gelegentlich zu vernehmenden Lautstärke ihrer organisierten Gegner ist die Jagd ein Auslaufmodell. Die Wahrheit sieht anders aus. Seit Jahren wächst bei uns die Anzahl der Jägerinnen und Jäger kontinuierlich und kräftig. Vor allem die der Waidgenossinnen. Und übrigens auch die der ehemaligen Veganer. Es hat sich herumgesprochen, dass Wildbret die fairste Art des Fleischverzehrs ist. Mehr Tierwohl geht wohl nicht, es sei denn durch Totalverzicht.
Spannend, dass mitunter auch Medien außerhalb der Fachpresse gute Haare an der Jägerschaft lassen. So berichtet aktuell die Wirtschaftswoche mit Fakten unterlegt, wie sich die Jagd als „beachtlicher Wirtschaftsfaktor“ entwickele. Im Durchschnitt lässt sich bei uns in Deutschland jede oder jeder einzelne die Passion Jagd 6.309 Euro jährlich kosten. Das gilt für die 436.000 Jägerinnen und Jäger in unserem Lande. Rund ein Drittel der genannten Durchschnittssumme geht als Pacht an die meist bäuerlichen Revierbesitzer. Für Waffen und Munition beträgt der Anteil an den statistisch errechneten durchschnittlichen Jagdkosten nur gut elf Prozent. Auf Biotoppflege, Reviereinrichtungen und den Ausgleich von Wildschäden entfallen danach etwa 22 Prozent.
Am Rande: In den gelobten Öko-Ländern Skandinaviens gehört die Jagd zumindest im ländlichen Raum immer noch zum Alltag. In Norwegen kommen elf Einwohner auf einen Jagdscheininhaber, in Finnland sind es 18 und in Schweden 36. Mit einem Jäger auf 193 Einwohner ist in Deutschland noch reichlich Luft nach oben. Und der letzte Platz unter den EU-Ländern wohl noch länger sicher. Was nicht an den Ausbildungs- und Prüfungskosten von durchschnittlich 2.610 Euro liegen dürfte. Sondern eher an jahrzehntelang gepflegten Vorurteilen.
Die gibt es beispielsweise inzwischen auch in England, wo nach einer anderen Statistik rund 400.000 Jägerinnen und Jäger registriert sind. Damit besteht im Vergleich zu uns ein ähnliches Verhältnis zur Einwohnerzahl. Für manchen blicken wir damit auch einmal auf eines der Mutterländer von Jagdprivilegien, die natürlich nicht mehr zeitgemäß sind. Die Geschichte ist manchmal auch belastend, wenn es Verbänden und Stimmen wie uns von natur+mensch darum geht, mit sachlichen Darstellungen und faktenunterlegt um mehr gesellschaftliche Akzeptanz für die Jagd zu werben. Dabei stehen wir zur Geschichte der Jagd, wie sie historisch gewachsen und stark im ländlichen Raum ausgeprägt ist. Es ist und bleibt eine Form der Naturnutzung, zu der ich stehe.
Ein kleiner Ausflug über den Kanal
Gelegentlich beobachten wir, wie die „Countryside Alliance“ in Großbritannien quasi ebenfalls als „Bürgerinitiative für den ländlichen Raum“ ähnliches wie wir bei natur+mensch tun. Alliance-Sprecher Tim Bonner befasst sich in seinem aktuellen Newsletter mit der Erhaltung gefährdeter Arten durch die Bejagung von Raubwild und beschreibt, wie sich auf der Insel Erscheinungen der Tierrechtsbewegung mit verschwimmenden Grenzen zu Umwelt- und Naturschutzorganisationen angleichen. Bonner berichtet von einer zunehmenden Frustration, die viele in Großbritannien erfasse, wenn sie erleben, wie Naturschutzorganisationen beispielsweise das Töten von Füchsen anprangern. Und das obwohl durch solche Tendenzen etwa Brachvogel-Wiederherstellungsprojekte gefährdet würden.
Etwas süffisant blickt er übrigens aufs Festland: Das Töten von Wölfen sei in seinem Land kein Problem, mit dem sich die „Countryside Alliance“ direkt befassen müsse, da es diese Tiere auf den Inseln seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr gebe. Das sei eine gewisse Erleichterung, da man es im Vereinigten Königreich mit anderen Problemen gegen die Jagd zu tun habe. Die Debatte in Europa scheine, so Bonner weiter, durch den Tod eines Ponys namens Dolly, das auf einem niedersächsischen Anwesen von Wölfen getötet wurde, erheblich beeinflusst worden zu sein. Dies sei ein „gewisser Fehler der Wölfe“ gewesen, da Dolly das Kindheitspony der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war. Er verortet in diesem Zusammenhang eine neue Interpretation der Regeln rund um die Wolfsjagd in der EU. Zu Deutschland im Speziellen hat er nichts geschrieben.
Dafür verweist die „Countryside Alliance“ darauf, wie anderswo auf der Welt die Argumente für die Tötung von Wölfen eher auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. In Kanada habe so eine neu veröffentlichte Studie herausgefunden, dass die Reduzierung der Wolfszahlen für die Erholung der stark bedrohten Bergkaribu-Populationen von entscheidender Bedeutung sei.
Zugegebenermaßen ist das diesmal abschließend ein weiterer Ausflug in dieser wöchentlichen Kolumne. Hoffentlich können Sie dagegen in Ihrer Nähe ein Wochenende genießen, das Zeichen und Temperaturen des Frühlings erwarten lässt.
Ihr
Jost Springensguth
Redaktionsleitung / Koordination
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