Grüne Doppelmoral: Führen ja, dienen lieber nicht
- Hugo Müller-Vogg
- 2. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Während Union und SPD die letzten Hürden vor der Wahl von Friedrich Merz überwunden haben und die Kabinettsliste steht, müssen die Grünen noch ihre Rolle in der Opposition finden

Annalena Baerbock hat sich bereits entschieden: Ein Bundestagsmandat reicht ihr nicht. Robert Habeck schwankt noch, ob er in der zweiten oder dritten Reihe mitarbeiten will. Moralisch so überlegen, wie Grüne sich gern geben, sind sie definitiv nicht. Habeck ist nicht der erste Kanzlerkandidat, der sein Wahlziel weit verfehlt hat. Aber keiner hat bisher die Frage, wie es mit ihm politisch weitergeht, so spannend unbeantwortet gelassen wie der geschäftsführende Noch-Wirtschaftsminister von den Grünen. Nach der herben Wahlniederlage hatte Habeck zunächst verkündet, er strebe bei den Grünen keine Führungsrolle mehr an. Zugleich ließ er offen, ob er sein Bundestagsmandat überhaupt annehmen werde.
Das sorgte bei den Habeck-„Jünger*innen (m/w/d)“ geradezu für Panik. Per Online-Petition wurde er beschworen, ja angefleht, unbedingt weiterzumachen. „Du bist für viele ein Hoffnungsträger. Und Hoffnungsträger dürfen nicht gehen, wenn sie am meisten gebraucht werden, sondern müssen Führung und Verantwortung übernehmen“, hieß es dort. Und mehr als 200.000 Habeckianer unterschrieben. Ihr Hoffnungsträger erhörte sie. Er nahm sein Mandat an.
Doch kurz darauf waberten neue Gerüchte durch Berlin: Habeck werde sein Mandat vor der Sommerpause niederlegen. Das dementierte dann eine Grünen-Sprecherin: „Nein, das können wir nicht bestätigen. Es ist nicht besprochen, dass Robert Habeck sein Mandat vor dem Sommer zurückgibt.“ Sie betonte: „Wir haben Robert Habeck immer gesagt, dass wir uns sehr freuen, wenn er Mitglied unserer Fraktion bleibt.“ Die Co-Vorsitzende der Fraktion, Birgit Haßelmann, unterstrich dies: „Wir konstituieren gerade die Fraktion, und Robert Habeck wird sich – in Absprache mit uns – künftig im Auswärtigen Ausschuss um das Verhältnis Deutschland-USA kümmern.“
Wie lange bleibt Habeck bei seinem über die Landesliste gewonnenen Mandat?
Damit wissen wir immer noch nicht, wie lange Habeck im Bundestag bleibt. Mandatsniederlegung nicht vor dem Sommer, aber vielleicht im Herbst? Bleibt er noch eine Zeitlang Abgeordneter, bis ihm ein attraktiver Job angeboten wird? Oder volle vier Jahre bis zum Ende der Legislaturperiode? Nur eines ist sicher: Das über die Landesliste gewonnene Mandat scheint Habeck nicht viel wert zu sein. Nach seiner Kür zum Kandidaten „für die Menschen“ im November 2024 hatte er angekündigt, er wolle Deutschland „dienend führen“. Er wolle da sein für die Menschen, „die glauben, dass dieses Land seine beste Zukunft noch vor sich hat“, schwadronierte er, vom Parteivolk umjubelt.
Nun ja: Ganze 11,6 Prozent der Wähler waren der Meinung, mit Habeck habe Deutschland seine „beste Zukunft“ noch vor sich. Im Wahlkreis Schleswig-Flensburg verlor er das 2021 gewonnene Direktmandat an die CDU-Kandidatin Petra Nicolaisen. Die Grünen erreichten dort in einer ihrer Hochburgen nur noch 15,9 Prozent der Zweitstimmen. Mit solchen Ergebnissen Deutschland zu „führen“, ist natürlich illusorisch. Aber „dienen“ kann man dem Land auch als einer von 630 Bundestagsabgeordneten. Für Habeck hängen „Dienen“ und „Führen“ aber offenbar sehr eng zusammen – vielleicht sogar untrennbar?
Die mit Habeck gescheiterte Co-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock hat noch viel deutlicher als die Nummer eins der Grünen die Öffentlichkeit wissen lassen, dass ein Abgeordnetenmandat aus ihrer Sicht nicht viel wert ist. Sie will nicht einfache Bundestagsabgeordnete bleiben; sie zieht es auf die weltpolitische Bühne. Nun ist es nicht so, dass ein vielstimmiger, multinationaler Chor nach der Erfinderin feministischer Außenpolitik gerufen hätte, um Präsidentin der UN-Vollversammlung zu werden. Baerbock hat mit brutalstmöglicher Offenheit nach dem Job gegriffen und dabei die bereits nominierte, ihr fachlich haushoch überlegene Spitzenbeamtin Helga Schmid zur Seite gedrängt. Ein Mann hätte eine Frau nie so skrupellos aus dem Weg räumen können, ohne von den Grünen als übler Macho beschimpft zu werden.
Obwohl sie bereits am Kofferpacken ist, hat Baerbock ihr Mandat natürlich angenommen. Zu tun hat sie als Abgeordnete zurzeit nichts. Von ihren Ministerbezügen von knapp 17.000 Euro im Monat könnte sie gut leben. Aber zusätzlich für ein paar Monate noch die (bei Ministern gekürzten) rund 8.600 Euro an Diäten und Aufwandsentschädigung als Abgeordnete mitzunehmen, kann ja nicht schaden.
Das Verhalten von Spitzenkandidaten nach Wahlniederlagen verrät viel
Baerbock ist auch hier die Nachfolgerin von Joschka Fischer. Der war nach der von Rot-Grün im September 2005 verlorenen Bundestagswahl noch bis November amtierender Außenminister, hatte aber keine politischen Ambitionen mehr. Sein Bundestagsmandat behielt er dennoch bis Ende August 2006. So flossen selbst in der sitzungsfreien Sommerpause die Diäten weiter, bis er als Gastdozent nach Princeton aufbrach.
Das Verhalten von Spitzenkandidaten nach Wahlniederlagen verrät viel über deren Charakter und ihr Verständnis von politischer Glaubwürdigkeit. Wer sich anbietet, das Land als Kanzler zu regieren, dem sollte das Land nicht völlig egal sein, wenn es für Platz eins nicht reicht. Der einzige Kanzler, der nach einer verlorenen Bundestagswahl sein Mandat nicht annahm, war 2005 Gerhard Schröder. Die gescheiterten Kanzlerkandidaten der vergangenen 20 Jahre akzeptierten allesamt das Votum der Wähler und nahmen ihren Sitz im Bundestag ein: Frank-Walter Steinmeier (SPD/2009), Peer Steinbrück (SPD/2013), Martin Schulz (SPD/2017) und Armin Laschet (CDU/2021). Auch der abgewählte Olaf Scholz (SPD) hat angekündigt, seinen Aufgaben als direkt gewählter Abgeordneter nachzukommen.
Unser Gastautor:
Dr. Hugo Müller-Vogg zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebs. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft.
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